Verschwenderisches, reformfaules Italien? Warum gängige Mythen falsch und gefährlich sind

by Johannes Rendl

Um Europas drittgrößte Volkswirtschaft Italien ranken sich viele falsche Mythen. Von Philipp Heimberger. Zur PDF-Version.

Aktuelle politische Debatten über den europäischen Wiederaufbau nach der COVID-19-Krise und über die Staatsverschuldung konzentrieren sich stark auf Italien. Italien ist die drittgrößte Volkswirtschaft Europas und wurde von der Corona-Krise schwer getroffen. Medien und Politik lancieren jedoch immer wieder verzerrte Darstellungen. Versuche eine differenzierte und pragmatische Debatte anzustoßen, was wirtschaftspolitisch zu tun wäre, werden damit untergraben. Denn von einer nachhaltigen Erholung Italiens würden auch europäische Nachbarstaaten wie Österreich erheblich profitieren. Hier werden einige Schlüsseldaten diskutiert, um den vorherrschenden Erzählungen über unseren südlichen Nachbarn entgegenzuwirken.

Gürtel enger schnallen?!
„Ein Land kann nicht dauerhaft über seinen Verhältnissen leben. Der italienische Staat muss dringend den Gürtel enger schnallen!“ PolitikerInnen und JournalistInnen wiederholen immer wieder Variationen dieser Behauptung, wenn es um Italien geht. Vor der Covid-19-Krise hörten wir, dass Italien aufhören müsse, „verschwenderisch“ zu sein.
Die Europäische Kommission und die Regierungschefs mehrerer EU-Mitgliedsstaaten drängten darauf, ein Defizitverfahren gegen Italien betreffend seiner Fiskalpolitik zu eröffnen. Seit dem Beginn der Corona-Krise haben führende europäische PolitikerInnen erneut beklagt, dass Italien es versäumt habe, marktliberale „Strukturreformen“ durchzuführen. In der ersten Phase der Pandemie wurde gar in Frage gestellt, ob Italien überhaupt finanzielle Unterstützung von europäischer Seite erhalten sollte.

ItalienerInnen leben nicht über ihren Verhältnissen
Volkswirtschaftlich betrachtet kann ein Land nur dann wirklich über seinen Verhältnissen leben, wenn es über lange Zeiträume deutlich mehr Güter und Dienstleistungen importiert als exportiert. Das führt zu steigender Auslandsverschuldung. Wenn hingegen etwa gleich viel exportiert wie importiert wird, ist es wenig zielführend, von einem Leben über den eigenen Verhältnissen zu sprechen. Denn Produktion und Verbrauch stimmen ja überein. In Italien ist es sogar so, dass das Land seit 2012 wieder höhere Exporte von Gütern und Dienstleistungen aufweist als Importe. Die ItalienerInnen verbrauchen weniger als sie produzieren. Wenn überhaupt leben sie also nicht über, sondern unter ihren Verhältnissen. Zudem ist die Privatverschuldung in Italien im OECD-Vergleich relativ gering;
sie liegt ziemlich genau auf dem Niveau von Österreich und Deutschland.

Sparweltmeister Italien
Aber lebt nicht der italienische Staat schon seit langem über seinen Verhältnissen?
Dass ein Mangel an budgetpolitischer Disziplin ein Hauptproblem Italiens sei, gilt in öffentlichen Diskussionen viel zu oft als Tatsache. Tatsächlich war die italienische Staatsverschuldung bereits vor dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie im europäischen Vergleich hoch. Aufgrund der Krise ist sie noch einmal sprunghaft auf 160% der Wirtschaftsleistung angestiegen. Doch die italienische Staatsschuldenbelastung geht stark auf Altlasten aus den 1980er-Jahren zurück. Sie entstand also vor Jahrzehnten in einem Zeitraum starker Zinsanstiege. Seither schleppt der italienische Staat einen gewaltigen Zins-Rucksack mit sich herum.

Was im öffentlichen und politischen Diskurs oft völlig untergeht, ist die Tatsache, dass der italienische Staat seit den frühen 1990er-Jahren absoluter Rekordsparer ist. Italien hat im Vergleich mit anderen Industrieländern mit Abstand die umfangreichsten Sparpakete umgesetzt. Gemessen am staatlichen Primärsaldo (Haushaltssaldo ohne Zinszahlungen) war das italienische Budget seit 1992 – mit Ausnahme des Finanzkrisenjahres 2009 und des Corona-Krisenjahres 2020 – immer im Plus. Einen solchen positiven Primärsaldo hat selbst Österreich viel seltener verzeichnet.

Der italienische Staat war also überhaupt nicht so verschwenderisch, wie oft behauptet wird. Er hat in den letzten Jahrzehnten konstant mehr eingenommen als ausgegeben. Jedoch hat die jährliche Zinsbelastung – die aufgrund der Altschulden aus den 1980er-Jahren hoch ist – den staatlichen Budget-Gesamtsaldo immer wieder in den negativen Bereich gedrückt. Italien wies im Corona-Krisenjahr 2020 ein großes Budgetdefizit aus, und auch 2021 wird ein erhebliches Defizit erwartet. Das ist aber auf die Auswirkungen der Covid-19-Krise zurückzuführen, die auch andere Länder wie
Österreich trifft.

Stagnierende Wirtschaft
Die italienische Staatsschuldenquote ist mit aktuell rund 160% des BIP auch deshalb so hoch, weil Italiens Wirtschaftswachstum in den letzten Jahrzehnten schwach war. Die Wirtschaft stagniert und der Staat kann somit nicht aus den bestehenden Schulden herauswachsen.
Seit den 1990er-Jahren hat die italienische Wirtschaft deutlich an Dynamik verloren und ist im Vergleich zu Ländern wie Österreich und Deutschland zurückgefallen. Es ist im Falle Italiens sehr auffällig, dass die Bindung an die Maastricht-Kriterien und der Einführungsprozess des Euro in den 1990er-Jahren in einem zeitlichen Zusammenhang mit dem Absinken des Wirtschaftswachstums und zunehmender Produktivitätsprobleme stehen.
Die aktuelle Forschung zeigt, dass der Sparkurs, der durch die Bindung an die europäischen Regeln und Kriterien gefördert wurde, zur Stagnation der italienischen Wirtschaft beigetragen hat. Eine Erklärung dafür ist u.a., dass die Bindung an die europäischen Budgetregeln die Inlandsnachfrage in Italien und damit auch das Wirtschaftswachstum reduziert hat. Die Gemeinschaftswährung EURO ist für Deutschland und Österreich zu billig (was die Exporte beflügelt) und für Italien zu teuer, was Wettbewerbsfähigkeits-Probleme in der italienischen Industrie verschärft hat. An einem Mangel an marktliberalen Arbeitsmarktreformen kann die wirtschaftliche Stagnation Italiens vor COVID-19 jedenfalls nicht gelegen haben. Die italienischen Regierungen haben nämlich fleißig Vorgaben zur Liberalisierung des Arbeitsmarktes
erfüllt. Im Jahr 2014 reduzierte die Regierung von Matteo Renzi etwa den Kündigungsschutz für ArbeitnehmerInnen. Was eine Fortsetzung des Prozesses der Arbeitsmarktliberalisierung der 1990er-Jahren bedeutet. Diese „Strukturreformen“ haben nicht nur die Inflation und die Reallöhne gesenkt. Sie drückten auch die Arbeitslosigkeit, indem sie Jobs in Form von temporären, prekären Arbeitsverhältnissen schufen: Die Arbeitslosenquote in Italien war niedriger als in Deutschland oder
Frankreich bevor die Finanzkrise 2007/2008 ausbrach. Allerdings verringerten die billigen Arbeitskräfte die Anreize für italienische Unternehmen, arbeitssparende Investitionen zu tätigen – mit negativen Auswirkungen auf die Produktivität. Auch die öffentlichen Investitionen sind aufgrund des Sparkurses deutlich gesunken, was sich ebenfalls langfristig negativ auswirkt.

Keine neuen Mythen
Italien hat hinter Deutschland immer noch den zweitgrößten Anteil an der Industrieproduktion der EU – und war jahrzehntelang ein Nettozahler in das EU-Budget. Ein starkes Europa braucht für die Zukunft ein starkes Italien. Dass mit „Next Generation EU“ rund 200 Milliarden Euro an EU-Geldern für den Wiederaufbau bereitgestellt werden – ein großer Teil davon in Form von nicht rückzahlbaren Zuschüssen – könnte wichtige Impulse für die Erholung geben.
Österreich ist als kleine, offene Volkswirtschaft in hohem Maße von seinen EU-Partnerländern abhängig. Italien ist etwa Österreichs zweitwichtigster EU-Exportabnehmer nach Deutschland. Eine Erholung der italienischen Wirtschaft ist damit auch für Österreichs Industrie und ihre ArbeitnehmerInnen wichtig.
Italien hat sicherlich erhebliche strukturelle Probleme, etwa den übergroßen Bankensektor, die Nord-Süd-Kluft oder die organisierte Kriminalität. Aber mit noch härterem Spardruck und weiteren Arbeitsmarktliberalisierungen werden sich diese Probleme nicht lösen lassen. Ob Italien nach der Covid-19-Krise wirtschaftlich an Fahrt gewinnen kann, wird nicht zuletzt von der Bereitschaft Österreichs und anderer EU-Länder zu institutionellen Reformen abhängen – insbesondere im Hinblick auf die Budgetregeln.
Diese müssen so angepasst werden, dass italienische Regierungen in Zukunft nicht auf einen kontraproduktiven Sparkurs gezwungen werden, der die Wirtschaft weiter schwächt und wichtige Zukunftsinvestitionen verhindert. Darüber hinaus braucht es eine Diskussion über Anpassungen der Industriepolitik in Europa, die auch abgehängte Regionen – wie etwa im Süden Italiens – strategisch in die Wertschöpfungsketten integriert, während strukturelle wirtschaftliche Veränderungen
im Hinblick auf die Bewältigung von Klimawandel und Digitalisierung gefördert werden.
Mythen über Italien werden in Medien und Politik immer wieder recycelt, obwohl diese Mythen durch einige grundlegende Daten relativ einfach widerlegbar sind. Das wirft Fragen bezüglich der Qualität der politischen Auseinandersetzung und der intellektuellen Debatte in Österreich und der EU auf. Um gute wirtschaftspolitische Ergebnisse für Italien und Europa zu erzielen, müssen wir dringend den öffentlichen Diskurs aufklären, der in der jüngeren Vergangenheit auch die politischen Beziehungen zwischen den Ländern und die Wirtschaftspolitik beschädigt hat.

Zum Weiterlesen:
• Baccaro, L., D’Antoni, M. (2020): Has the “external constraint“ contributed to Italy’s stagnation? A critical event analysis, MPIfG Discussion Paper No. 20/9.
• Heimberger, P., Krahe, M., Ponattu, D., van’t Klooster, J. (2020): Keeping the promise of eurozone convergence, Social Europe
• Storm, S. (2019): Lost in deflation: Why Italy’s woes are a warning to the whole Eurozone, International Political Economy, 48(3), 195-237
• Tooze, A. (2021): Mario Draghi and Italy’s years of crisis, Chartbook Newsletter

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