Marie Jahoda war eine vielseitige Frau: Ko-Autorin der Marienthal-Studie, politische Aktivistin im Roten Wien und erfolgreiche Wissenschaftlerin in den USA und England. Der 26. Jänner 2022 ist der 115. Geburtstag einer großen Sozialwissenschaftlerin. Von Georg Hubmann. Zur PDF-Version.
Marie Jahoda ist ein Vorbild für Sozialwissenschaftler*innen. Sie war als empirische Forscherin nicht nur an der Klärung von Fakten interessiert, sondern richtete ihren Fokus immer auch auf die betroffenen Menschen und deren reale Probleme. Diese Einstellung zur Arbeit als Wissenschaftler*in ist im heutigen Wissenschaftsbetrieb selten geworden.
Marie Jahoda war aber auch von Jugendtagen an politische Aktivistin im Roten Wien. Sie engagierte sich vor allem in der Bildungsarbeit der Sozialistischen Partei und – nach der Beseitigung der Demokratie durch Engelbert Dollfuß – auch in der Arbeit der Revolutionären Sozialisten, der illegalen Organisation der Sozialdemokratie. Deswegen kam sie in Haft und musste 1937 Österreich verlassen.
Engagement für den Fortschritt
Aus der Biografie von Marie Jahoda wird verständlich, warum sie immer unter einem breiteren, oft auch politischen Blickwinkel geforscht hat. Aufgewachsen und sozialisiert im Roten Wien der 1920er-Jahre, engagierte sie sich schon mit fünfzehn Jahren beim Verband sozialistischer Mittelschüler. Das Thema der gerechten Bildungschancen unabhängig von der sozialen Herkunft war eines ihrer ersten politischen Interessenfelder. Ein Auftritt als Rednerin zum Thema der Schulreform – Ziel war die allgemeine Mittelschule – beim großen Maiaufmarsch der Wiener Sozialdemokratie im Jahr 1926 auf dem Rathausplatz brachte ihr eine Rüge der Schuldirektorin und in weiterer Folge eine Betragensnote im Abschlusszeugnis ein. Diese Begebenheit steht für ihren Mut bereits als Jugendliche, für eine Sache öffentlich einzutreten. Schon früh zeigte ihr Einsatz für eine bessere Gesellschaft und einen gerechten Umgang im Zwischenmenschlichen ihren inneren politischen Antrieb. Als Vorsitzende des Verbandes sozialistischer Mittelschüler kam sie zwanglos in Kontakt mit den führenden Sozialdemokrat*innen der Zeit. Besonders prägend waren für sie damals der Nationalökonom Otto Neurath und der Austromarxist Otto Bauer.
Bildungsarbeit ist das Wichtigste
Die Idee, dass „es nichts Wichtigeres als die allgemeine Erziehung gibt“, war Jahodas Motivation für ihre Studienwahl. Sie belegte das Fach Psychologie an der Universität Wien und begann eine Ausbildung zur Volksschullehrerin. Ihr Lebenstraum zu der Zeit war, Unterrichtsministerin zu werden, um am Aufbau einer neuen, sozialdemokratisch geprägten Gesellschaft mitzuwirken, gerade dafür schien ihr die Ausbildung zweckmäßig. Sie war während ihrer Studienzeit stets in der politischen Bildungsarbeit aktiv. In den 1930er Jahren spitzten sich die sozialen und politischen Verhältnisse in Österreich immer weiter zu. Das Aufkommen faschistischer Ideen in Europa wie in Österreich führten in die Diktatur und machten Jahodas Zukunftshoffnungen zunichte. Nach den Februarkämpfen 1934 wurde alle sozialdemokratischen Organisationen verboten. Jahoda engagierte sich dennoch bei den verboten Revolutionären Sozialisten. Die von ihr geleitete Wirtschaftspsychologische Forschungsstelle fungierte als geheimer Briefkasten. Im November 1936 kam es zur Hausdurchsuchung, Marie Jahoda und neun Mitarbeiter*innen wurden verhaftet. Als Sozialistin, Jüdin, Akademikerin und Frau war Jahoda den neuen Diktatoren im österreichischen Ständestaat gleich mehrfach ein Dorn im Auge. Das Regime sah sie als führenden Kopf der Revolutionären Sozialisten und inhaftiert sie wegen staatsfeindlicher Verbindungen. In den langen Verhören leugnete Jahoda nicht ihre Gesinnung, gab von ihren politischen Aktivitäten jedoch nur zu, was ihr nachgewiesen werden konnte. Sie gab keine Details und
Namen von Kontaktpersonen aus der Organisation preis. Vor Gericht blieb ihr die Anklage wegen Hochverrats erspart. Aufgrund des austrofaschistischen Systems der Doppelbestrafung durch Polizei und Justiz saß sie dennoch monatelang in Haft und kam nur durch zahlreiche Interventionen aus dem Ausland im Juli 1937 frei. Der Preis dafür war hoch: Ihr wurde die Staatsbürgerschaft aberkannt und sie musste Österreich sofort verlassen. Während des Zweiten Weltkriegs war sie im Exil in England und ging 1945 in die USA, wo sie ihre wissenschaftliche Karriere begann.
Marie Jahoda am Tag der Haftentlassung am 15. Juli 1937. Quelle: VGA.
Aktivistin und Sozialforscherin
Die Aktivistin Marie Jahoda ist erst durch den politischen Umsturz in Österreich und ihre Vertreibung zu einer Sozialforscherin geworden, die diesen Beruf auch als Lebensaufgabe betrachtete. Die Prägung durch das politische Engagement und den damit verbundenen Fokus auf die realen Probleme der Gesellschaft hat sie in ihren Forschungsarbeiten immer behalten. In einem Artikel für die damals verbotene sozialdemokratische Schrift Der Kampf schrieb sie unter dem Pseudonym M. Mautner: „Tatsachen sind nur an Hand von Kenntnissen und Wissen erkenntnismäßig bewältigbar, Wissen führt nur in ständiger Konfrontation mit den Tatsachen von der Interpretation zur Handlung.“ Auch wenn das Zitat im Original einen politischeren Bezugspunkt hat, steht es rückblickend für die Geisteshaltung, die Jahoda in ihrer Forschungsarbeit angeleitet hat.
Die realen Probleme der Menschen im Blick
Heute fokussiert sich gerade die Sozialwissenschaft immer mehr auf die Erforschung von Detailfragen, die vielfach ohne soziale Kontexte untersucht werden, und damit kommen auch die Situation der Betroffenheit sowie die Analyse gesellschaftlicher Auswirkungen zu kurz. Marie Jahoda wählte für ihre Forschungsarbeit einen anderen Weg. Schon die Auswahl des Untersuchungsgegenstandes ihrer Dissertation zeugt von Jahodas Bemühen, ihre persönlichen Überzeugungen in der wissenschaftlichen Arbeit unterzubringen. Sie erforschte die Lebensverläufe von Menschen, die um 1930 in den Versorgungshäusern lebten. Zu diesem Zweck erweiterte sie den methodischen Zugang ihrer Betreuerin Charlotte Bühler. Diese hatte ihre Theorie über systematische Aspekte des menschlichen Lebenslaufes vorwiegend aus Biografien gut situierter Männer erarbeitet. Jahoda wollte überprüfen, ob diese Theorie auch unter den Lebensbedingungen der einfachen Leute funktioniert. Dazu führte sie Interviews mit 52 Menschen in Wiener Versorgungshäusern. Das verdeutlicht das Interesse Marie Jahodas an der konkreten Lebenssituation der Menschen, eine durchgängige Haltung in ihrer wissenschaftlichen Arbeit.
Nicht nur beobachten
Ähnliches gilt für die Forschungsarbeit in Marienthal. Schon der Schritt, wie es schlussendlich zur Wahl des Themas kam, zeigt den starken Bezug zu politisch-gesellschaftlichen Fragestellungen. Ursprünglich wollte die Forschungsgruppe um Paul Lazarsfeld das Freizeitverhalten der Menschen untersuchen, schließlich war gerade die Arbeitszeit verkürzt worden. Der Plan war, zu erforschen, was die Menschen mit der neu gewonnenen Freizeit anfingen. In einem Gespräch mit Otto Bauer, dem Vordenker der Sozialdemokratie, schlug dieser jedoch vor, gerade in Zeiten der wachsenden Arbeitslosigkeit die konkreten Auswirkungen der Arbeitslosigkeit zu untersuchen und dies in Marienthal zu tun. Auch die Methodik zur Durchführung der Studie war nie ein bloßes Beobachten der Zustände, sondern mit verschiedenen Initiativen zur Unterstützung der Betroffenen in Marienthal verbunden. So organisierte die Forschungsgruppe Schnittkurse und Kleideraktionen sowie Gesundheitsuntersuchungen für Kinder im Zuge der Feldarbeit in Marienthal. Jahodas Auseinandersetzung mit der Frage „Warum der Mensch die Arbeit braucht“ ist auch heute noch aktuell und eine gute Vorlage für viele brennende gesellschaftliche Fragen der Gegenwart.
Arbeitslose an der Hauptstraße in Marienthal, heute Gramatneusiedl, 1931. Quelle: AGSO.
Mut beweisen
Ein anderes Beispiel für Jahodas Zugang zur wissenschaftlichen Arbeit findet sich in den 1950er-Jahren, als sie an der New York University forschte. Es war der Höhepunkt der Mc-Carthy-Ära, benannt nach dem Senator Joseph McCarthy, der im beginnenden Kalten Krieg Wortführer der antikommunistischen Bewegung in den USA war. Marie Jahoda schien als sozialistischer Flüchtling aus Österreich sicherlich nicht unverdächtig und wurde möglicherweise selbst überwacht, was sie aber nicht daran hinderte, sich als eine der ersten Sozialwissenschaftler*innen systematisch mit den Auswirkungen dieser Politik an den Universitäten und der gesellschaftlichen Stimmung in den USA auseinanderzusetzen. Sie kritisierte in einer Studie gemeinsam mit Stuart W. Cook die Schaffung eines geistigen Klimas, das ideologische Unterwürfigkeit und Konformität erzeuge. Hier zeigt sich, dass Marie Jahoda auch als politischer Flüchtling nicht von ihrer politischen Grundhaltung und dem Fokus auf ganz konkrete, gesellschaftlich relevante Fragestellungen in ihrer Arbeit als Wissenschaftlerin abrückte.
Folgenabschätzung
Marie Jahoda vertrat mit ihrem Zugang zur Forschung die Perspektive, dass die verfolgten Fragestellungen eine praktische Bedeutung für jene haben sollten, die erforscht werden. Vor allem sollten ihnen keine Nachteile daraus erwachsen. Dieses Selbstverständnis zeigte sich auch, als sie in England tätig war und eine Studie über asiatische Flüchtlinge aus Uganda, einer ehemaligen englischen Kolonie, nicht veröffentlichte, weil die Ergebnisse zeigten, dass die Geflüchteten gegenüber den Schwarzafrikaner*innen rassistisch eingestellt waren. Es bestand die Gefahr, dass eine Publikation Schaden in der englischen Öffentlichkeit anrichten würde, und das war für sie der Beweggrund, diese Forschungsarbeit nicht zu veröffentlichen.
Mehr dazu unter www.mariejahoda.at
Marie Jahoda als Vorbild
Marie Jahoda zeichnen ihre besondere Haltung gegenüber dem Forschungsgegenstand und die Kreativität in der Methodenwahl als Wissenschaftlerin aus – Eigenschaften, die im heutigen Wissenschaftsbetrieb aus systemischen Zwängen immer seltener werden, aber unter dem Gesichtspunkt der Praxisrelevanz produktiv für sozialwissenschaftliche Forschung wären. Auch die zentrale Frage ihrer Dissertation nach der sozialen Absicherung und Teilhabe an der Gesellschaft hat nichts an Aktualität verloren und bleibt auch heute eine immanent politische und gesellschaftliche Herausforderung. Das gilt für ihre umfangreichen Forschungen für die Bedeutung der Arbeit für die Menschen. Das zeigt auch das aktuell laufende Projekt MAGMA für eine Jobgarantie für Langzeitarbeitslose Menschen in Marienthal, heute Gemeinde Gramatneusiedl.
Leben und Werk von Marie Jahoda bieten heute viele Anregungen für sozialwissenschaftlich Forschende. Das gilt für ihre zentralen Forschungsthemen, etwa Vorurteile und Antisemitismus, das Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit, die sozialen Bedingungen von Unabhängigkeit und Konformismus, die sozialpsychologische Bedeutung von Arbeit und Arbeitslosigkeit. Sie beziehen sich auf soziale Probleme des Zusammenlebens, die auch heute noch Gegenstand von Konflikten und Debatten sind. Das gilt ebenso für den methodologischen Zugang einer „lebensnahen Forschung“. Und es gilt für ihre grundsätzliche Lebenshaltung, politische Anliegen und wissenschaftliche Forschung in eine Beziehung
zu setzen.
Zum Weiterlesen:
• Bacher, Johann / Kannonier-Finster, Waltraud / Ziegler, Meinrad (2017): Marie Jahoda: Lebensgeschichtliche Protokolle der arbeitenden Klassen 1850–1930. Studienverlag.
• Bacher, Johann / Kannonier-Finster, Waltraud / Ziegler, Meinrad (2019): Marie Jahoda: Arbeitslose bei der Arbeit. Studienverlag.
• Bacher, Johann / Kannonier-Finster, Waltraud / Ziegler, Meinrad (2019): Marie Jahoda: Aufsätze und Essays. Studienverlag.
• Bacher, Johann / Kannonier-Finster, Waltraud / Ziegler, Meinrad (2022): Akteneinsicht: Marie Jahoda in Haft. Studienverlag.
• Engler, Steffani / Hasenjürgen, Brigitte (1997): Marie Jahoda: Ich habe die Welt nicht verändert. Campus Verlag.
• Jahoda, Marie / Lazarsfeld, Paul/ Zeisel, Hans (1975/1933): Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit. Suhrkamp.
• Marie Jahoda – Otto Bauer Institut: Lebenslauf, Forschungsschwerpunkte und aktuelle Publikationen von Marie Jahoda: www.mariejahoda.at
• Archiv der Geschichte der Soziologie in Österreich (AGSÖ): Marie Jahoda, Pionierin der Sozialforschung: agso.uni-graz.at/jahoda