Die demokratische Mitwirkung ist auf Bund, Länder und Gemeinden beschränkt – Wirtschaftsleben und Arbeitswelt sind davon nicht erfasst. Aus der Perspektive der Lohnabhängigen ist die Demokratie in Österreich deshalb unvollständig. Von Edgar Wolf. Zur PDF-Version.
Demokratie bedeutet Selbstregierung des Volkes. Und es ist scheinbar selbstverständlich, dass in Österreich die Sphäre des Staates demokratisch verfasst ist. Diese politische Demokratie ist gekennzeichnet durch allgemeines und gleiches aktives und passives Wahlrecht, regelmäßige freie Wahlen der gesetzgebenden Körperschaften und grundsätzlich gleiche Mitbestimmungsrechte bei Volksbegehren, Volksbefragungen und Volksabstimmungen.
Keine Demokratie in Wirtschaft und Arbeitswelt
Nichtdemokratisch verfasst ist dagegen die Sphäre der Ökonomie. Weder herrscht das Volk in der Volkswirtschaft, noch entscheiden die Lohnarbeiter*innen eines Betriebes über das Ergebnis ihrer Arbeit. Zwar gibt es in Österreich Mitwirkungsrechte für die gewählten Betriebsräte, bei der wirtschaftlichen Führung des Unternehmens, erklärt das Arbeitsverfassungsgesetz aber ausdrücklich deren Unzuständigkeit. Entscheidungen über Investitionen, Standortverlegungen, Rationalisierungen, Betriebsstillegungen, Massenkündigungen etc. werden mehr oder weniger selbstverständlich als Privatangelegenheit der Unternehmer*innen akzeptiert, während die gesellschaftlichen Folgen dieser Entscheidungen von der Allgemeinheit zu bewältigen sind. Im Sinne der neoliberalen Dogmen von „Wettbewerbsfreiheit“ und „Privat statt Staat“ hat die Republik in den vergangenen Jahrzehnten nahezu alle Instrumente der Wirtschaftsregulierung aus der Hand gegeben und damit dem Volk die Möglichkeit genommen, über die Wahl dieser oder jener Partei, auch nur indirekt Einfluss auf wirtschaftliche Prozesse zu nehmen.
Wirtschaftsdemokratie ist Vervollständigung der Demokratie
Eine Demokratie ist aber unvollständig, wenn sie am Werkstor oder der Garderobe zum Großraumbüro endet. Der undemokratischen Verfasstheit des Wirtschaftslebens und der Arbeitswelt entgegensetzt ist das sozialdemokratische Konzept der Wirtschaftsdemokratie. Es wurde erstmals in den 1920ern entwickelt und fordert die Ausweitung der Rechte der Lohnabhängigen am Arbeitsplatz, den Ausbau der betrieblichen Mitwirkung von Betriebsräten sowie der Koalitionsfreiheit und der Tarifautonomie. Es umfasst aber auch die Übernahme wichtiger Industriezweige in öffentliches Eigentum, die Einführung paritätisch besetzter Wirtschaftsräte, die staatliche Förderung des Genossenschaftswesens und auch die Demokratisierung der Bildungseinrichtungen, um Arbeiter*innen und Angestellte für Führungsaufgaben in der Volkswirtschaft zu qualifizieren.
Wirtschaftsdemokratie – heute wieder aktuell
Die Jahrzehnte des Neoliberalismus haben zu einer massiven Vermögensanhäufung bei den Reichen und Superreichen geführt. Dementsprechend hat auch eine enorme Machtverschiebung zugunsten von Finanzindustrie, Konzernen und den Interessenverbänden der Unternehmen stattgefunden. Das tagtägliche Arbeitsleben ist meist auch durch autoritäre Weisungskultur und nicht durch demokratische Entscheidungsfindung geprägt. Die Demokratisierung der Wirtschaft würde dieser Entwicklung entgegenwirken und das Kräfteverhältnis zugunsten der arbeitenden Menschen ausgleichen. In diesem Sinne können einige Eckpunkte wirtschaftsdemokratischer Reformvorschläge auf drei Ebenen skizziert werden:
1. Betriebliche Ebene
• Umfassende Erneuerung des Arbeitsverfassungsgesetztes im Sinne der Ausweitung der Überwachungsbefugnisse und Mitwirkungsrechte der zu wirtschaftlichen Mitbestimmungsrechten
• Bei großen Unternehmen mit Aufsichtsratspflicht: paritätische Besetzung der Aufsichtsräte statt Zweidrittelmehrheit der Kapitalvertreter*innen
• Vetorecht der Betriebsräte und Betriebsversammlungen bei geplanten Massenkündigungen, Betriebsstillegungen und anderen wesentlichen Betriebsänderungen
• Herabsetzung der erforderlichen Beschäftigtenzahlen für die Freistellung von Betriebsratsmitgliedern, Recht auf Teilfreistellung, Erhöhung der Mandatszahlen, Stärkung der Betriebsversammlung als Organ der Beschäftigten
• Strafbarkeit der Behinderung von Betriebs- und Personalvertretungswahlen, insgesamt Einführung von umfassenden Strafbestimmungen bei Verstößen gegen das Arbeitsrecht
• Anpassung des Betriebsbegriffs an die aktuellen Entwicklungen der Arbeitswelt (dislozierte digitale Arbeit, Homeoffice etc.) sowie Errichtung von überbetrieblichen Interessensvertretungen in Einkaufszentren, Flughäfen, Business Parks etc.
• Etablierung demokratischer und beteiligungsorientierter Unternehmenskulturen durch Rechtsanspruch auf betriebliche und überbetriebliche Weiterbildung, Einbindung der Beschäftigten in betriebliche Entscheidungsprozesse, verbindlich-transparente Managementkommunikation
2. Überbetriebliche Ebene
• Ausbau der Kollektivverträge als zentrales Gestaltungsinstrument der branchenspezifischen Arbeits- und Entgeltbedingungen, Absicherung der Tarifautonomie und der Allgemeinverbindlichkeit von Kollektivverträgen
• Beibehaltung der gesetzlichen Mitgliedschaft für gewerbliche Unternehmen in den Fachverbänden der WKO, Pflicht der nicht umlagepflichtigen Unternehmen, einem Branchenverband beizutreten, da sonst keine branchenweit gültigen Kollektivverträge verhandelt werden können
• Verpflichtende Errichtung von dauerhaften Branchenstiftungen, die sich aus den Unternehmensgewinnen speisen (Lastenausgleich), zur Bewältigung des branchenspezifischen Strukturwandels, paritätisch verwaltet von den kollektivvertragsfähigen Körperschaften
• Demokratisierung der Selbstverwaltung durch die Wahl der Organe (z. B. in der ÖGK durch die Arbeiter*innen und Angestellten)
• Ausweitung bzw. Ausbau des Prinzips der demokratischen Selbstverwaltung im Rahmen öffentlich-rechtlichen Einrichtungen (nicht-territoriale Selbstverwaltungen) auf weitere gesellschaftliche Bereiche wie Arbeitsmarkt, Pflege, Bildung etc.
3. Volkswirtschaftliche Ebene
• Errichtung von drittelparitätisch (Unternehmer*innen, Verbraucher*innen, Gewerkschaften) besetzten Wirtschaftsräten, die den gesetzgebenden Körperschaften volkwirtschaftliche Rahmenpläne vorlegen, unter Einbindung von Universitäten und Forschungseinrichtungen
• Einbindung der Unternehmen in den Rahmen der Volkswirtschaftsplanung auf Beschluss der gesetzgebenden Körperschaft, z.B. zur Sicherstellung der Versorgung mit Arzneimitteln und medizintechnischen Produkten, Erreichung der Ernährungssouveränität, Restrukturierung der Produktion im Sinne des Klimaschutzes u. dgl.
• Ausrichtung der Wirtschaftspolitik auf autozentrierte Entwicklung, Eigenversorgung und möglichst kleinräumige Wirtschaftskreisläufe („Self Reliance“) mit dem Ziel einer demokratischen Kontrolle der Wertschöpfungsketten
• Restrukturierung der ÖBAG zu einer strategischen Unternehmensbeteiligungsgesellschaft des Bundes zum Aufbau eines öffentlichen Wirtschaftssektors in systemrelevanten Bereichen unter demokratischer Kontrolle durch den Nationalrat und Beschickung der Aufsichtsorgane durch unabhängige Expert*innen
• Schaffung einer rechtlichen Grundlage zur Überführung von Betrieben in öffentliches Eigentum, wenn der Betriebsrat gegen eine geplante Betriebsstillegung Einspruch erhoben und der ÖGB die staatliche Wirtschaftskommission angerufen hat
• Staatliche Unterstützung und Förderung neuer Unternehmensformen, die nicht gewinnorientiert sind und ihre Leitungs- und Aufsichtsorgane demokratisch und transparent bestellen, z. B. selbstverwaltete Genossenschaften, gemeinwohlorientierte Stiftungen etc.
• „Monopolsteuer“ für Konzerne, die marktbeherrschend und gewinnorientiert sind, Umverteilung der Steuerquote von den Erwerbseinkommen zu den Besitzeinkommen durch progressive Vermögensteuer, Erbschaftssteuer etc.
Die Demokratisierung von Wirtschaft und Arbeit ist das Gegenkonzept zur Übermacht der Vermögensbesitzer*innen und Manager*innen. Sie ermöglicht die Perspektive von Verteilungsgerechtigkeit, einer gemeinwohlorientierten Wirtschaft sowie guter Arbeit und eines guten Lebens für alle.
Zum Weiterlesen:
• Bontrup, Heinz -Josef (2020). Arbeit, Kapital und Staat. Plädoyer für eine demokratische Wirtschaft. Köln: Papy Rossa.
• Demirovic, Alex (HG) (2018). Wirtschaftsdemokratie neu denken. Münster: Westfälisches Dampfboot
• Meine, Hertmut/Michael Schuhmann/Hans-Jürgen Urban (2011). Mehr Wirtschaftsdemokratie wagen. Hamburg: VSA.
• Naphtali, Fritz (1968; erstmals 1928). Wirtschaftsdemokratie. Ihr Wesen, Weg und Ziel. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt.