Arbeitslosigkeit statt arbeitslose Menschen bekämpfen!

by Nora Waldhör

Weder ein degressives Arbeitslosengeld, noch die Streichung der Zuverdienstgrenze werden vorhandene Probleme am Arbeitsmarkt lösen. Von Nora Waldhör. Zur PDF-Version.
Für das Jahr 2022 wurde von Arbeitsminister Martin Kocher eine Reform des Arbeitsmarktes angekündigt. Er sympathisiert immer wieder mit der Einführung eines degressiven Arbeitslosengeldes, also einem Modell, bei dem die Höhe mit zunehmender Dauer des Bezugs absinkt. Zusätzlich wird immer wieder über die Senkung oder gar Abschaffung der Zuverdienstgrenze – wie es AMS Chef Johannes Kopf vorschwebt – diskutiert. Argumente wie diese verstärken das Bild in der Öffentlichkeit, dass es arbeitslosen Menschen viel zu gut gehe und sie deshalb keine Motivation hätten, sich einen Job zu suchen. Aber stimmt diese Erzählung? Und wie können vorhandene Probleme am Arbeitsmarkt nachhaltig und langfristig gelöst werden?

Die Erzählung der „sozialen Hängematte“
Die Geschichte ist sehr alt und ziemlich simpel: Der Sozialstaat sei zu großzügig und Sozialleistungsbezieher: innen hätten daher keine Motivation, sich einen Arbeitsplatz zu suchen. Deshalb müsse die Politik mehr Anreize schaffen, damit sich diese Menschen wieder aktiv um einen Arbeitsplatz bemühen.
Tatsächlich aber sind Leistungsbezieher:innen weit entfernt von unberechtigtem Wohlstand: Das Institut für Empirische Sozialforschung (IFES) führte im Auftrag der Arbeiterkammer Oberösterreich (AK OÖ) eine Sonderauswertung des Arbeitsklima-Index durch. Diese zeigt, dass Arbeitslose gerade noch (55 %) oder gar nicht (27 %) mit dem Arbeitslosengeld auskommen. Somit können sich acht von zehn Arbeitslose das Leben defacto nicht leisten. Noch prekärer ist die Situation von Langzeitarbeitslosen: 94 % gaben an, dass das Arbeitslosengeld gerade noch oder gar nicht ausreicht. Im Vergleich dazu ist das finanzielle Risiko unter den Erwerbstätigen mit 45 % halb so hoch. Auch dieser Wert schockiert: Denn es sind fast die Hälfte der Erwerbstätigen die angeben Schwierigkeiten zu haben, ihre alltäglichen Rechnungen zu bezahlen.


Die kürzlich vom Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsument:innenschutz veröffentlichte Studie „So geht’s uns heute: die sozialen Folgen der Corona-Krise“ bringt weitere Details zur Lage der Menschen in Österreich: Von 3.500 Befragten gab rund ein Drittel an, innerhalb der letzten zwölf Monate Einkommen verloren zu haben. Hochgerechnet auf die österreichische Bevölkerung sind das knapp 2 Mio. Menschen. 14 % der Befragten gaben an, dass sie (große) Schwierigkeiten hatten, mit dem Haushaltseinkommen auszukommen. 12 % hatten große Sorgen, in den kommenden drei Monaten ihre Wohnkosten nicht bezahlen zu können. Im November und Dezember 2021 konnten es sich 6 % der Befragten nicht mehr leisten, ihre Wohnung zu heizen. Unter den Arbeitslosen lag dieser Wert sogar bei 22 %. Die Einkommensverluste im Zuge der Corona Krise betrafen also breite Teile der österreichischen Bevölkerung. Die Hauptursachen für die Einkommensverluste waren u.a. reduzierte Arbeitszeit bzw. Lohneinbußen, Arbeitsplatzverlust und Kürzungen der Sozialleistungen.
Diese Zahlen überraschen nicht, denn im Jahr 2020 betrug das durchschnittliche Arbeitslosengeld pro Person 993 Euro, die Notstandshilfe im Schnitt 873 Euro. Im Vergleich dazu: Die Armutsgrenze liegt in Österreich bei 1.328 Euro. Damit ist klar, dass unser Sozialstaat derzeit viele nicht ausreichend vor Armut schützt. Die Erzählung von der „sozialen Hängematte“ und dem ungerechtfertigten Wohlstand entspricht also nicht der Realität der Leistungsbezieher:innen.

Fachkräftemangel – viele Probleme am Arbeitsmarkt sind hausgemacht!
Ein weiteres Thema, das im Zusammenhang mit hoher Arbeitslosigkeit immer wieder thematisiert wird, ist der Fachkräftemangel. Besonders häufig wird dabei über Gesundheits- und Pflegeberufe sowie die Gastronomie und Hotellerie diskutiert. Ebenso wird ein degressives Arbeitslosengeld oft damit gerechtfertigt, dass arbeitslose Menschen zu hohe Leistungen beziehen, während gleichzeitig ein Fachkräftemangel herrscht. Diese Argumentation ist für eine ernsthafte Diskussion über Arbeitsmarktpolitik in vielerlei Hinsicht unqualifiziert:
Erstens, handelt es sich bei einem Fachkräftemangel – wie der Name schon sagt – um einen Mangel an Fachkräften. Facharbeitskräfte üben Berufe aus, in denen das Fachwissen in einer mehrjährigen Ausbildung erlernt wird. Nicht jede arbeitslose Person kann von heute auf morgen umgeschult werden.
Zweitens kann aufgrund unterschiedlicher Faktoren wie Pflege- und Betreuungsverpflichtungen oder aufgrund von gesundheitlichen Einschränkungen auch nicht jede Person jeden Arbeitsplatz annehmen. Ende April 2022 hatten unter allen arbeitslos gemeldeten Personen rund 26 % eine Behinderung (etwa 5 %) oder eine gesundheitliche Beeinträchtigung (etwa 21 %). Und drittens sind die Ursachen für einen Mangel an Facharbeitskräften häufig schlechte Arbeitsbedingungen, zu hohe Arbeitsbelastung und zu geringe Bezahlung. Zudem sind die Arbeitszeiten häufig starr und familienunfreundlich, weshalb Vereinbarkeitsprobleme von Beruf und Familie noch schwerer wiegen, als bei anderen Berufen.
Dass der Fachkräftemangel in der Gastronomie und Hotellerie hausgemacht ist, zeigt eine kürzlich von der AK OÖ veröffentlichte Analyse: Das Brutto-Medianeinkommen in Oberösterreich – also das Einkommen genau in der Mitte aller Angestellten und Arbeiter:innen – lag bei 2.523 Euro monatlich. Das Brutto-Medianeinkommen bei Beschäftigten in der Gastro- und Hotelbranche lag hingegen nur bei 1.540 Euro und ist somit um 40 % niedriger als in anderen Branchen.


Die Gastronomie- und Hotelbranche zahlt nicht nur deutlich niedrigere Gehälter als andere Branchen, sie ist auch Spitzenreiterin bei arbeitsrechtlichen Verstößen: Von 2013 bis 2020 entfielen in Oberösterreich pro Jahr rund 15 % aller abgeschlossenen Rechtsakte auf die Gastronomie und Hotellerie obwohl hier nur 3 % der unselbstständig Beschäftigten tätig sind. Dass es auch anders geht, beweist ein Gastronom in Kärnten: In seinem Restaurant bewarben sich mehr als 40 Personen aus ganz Österreich um eine Stelle als Barkraft. Der Grund dafür ist, dass die Stelle mit 3.200 Euro netto im Monat bei 40 Wochenstunden an fünf Tagen ausgeschrieben wurde. Unter den Bewerber:innen fanden sich viele, auch für andere Bereiche qualifizierte Personen, so stellte der Gastronom gleich 5 neue Mitarbeiter:innen ein. Diese Beispiele zeigen: Weder ein degressives Arbeitslosengeld noch die Streichung der Zuverdienstgrenze lösen die Probleme am Arbeitsmarkt nachhaltig. Hierfür braucht es klügere Ansätze als arbeitslose Menschen unter Druck zu setzen, damit sie um prekäre Jobs konkurrieren müssen!

Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren!
Was es braucht sind sichere, gut bezahlte und nachhaltige Arbeitsplätze, die den Menschen ein Leben ohne Armut bei einer sinnstiftenden Tätigkeit mit Perspektive ermöglichen. Denn zusätzlich zu den in vielen Berufen schlechten Arbeitsbedingungen und niedrigen Gehältern, gibt es derzeit auch schlicht zu wenige Arbeitsplätze. Ende April 2022 waren knapp 255.000 Menschen arbeitslos, bei lediglich 129.000 offenen Stellen. Rein statistisch gesehen gibt es aktuell also nicht einmal für jede arbeitslose Person einen Arbeitsplatz.
Das AMS Niederösterreich hat sich zum Ziel gesetzt, für langzeitarbeitslose Menschen einen passenden und guten Arbeitsplatz zu finden und hat in der Gemeinde Gramatneusiedl (Bezirk Bruck an der Leitha) ein Pilotprojekt zur Beschäftigung langzeitarbeitsloser Menschen initiiert: Im Zuge des Projekts MAGMA (Modellprojekt Arbeitsplatzgarantie Marienthal) wird allen langzeitarbeitslosen Menschen in der Gemeinde ein Job garantiert. Durch gut vorbereitete Einstiegskurse werden persönliche Potenziale und Kompetenzen erhoben, um bisherige Hürden eines beruflichen Wiedereinstiegs abzubauen. Wenn für die Teilnehmer:innen des Projekts kein passender Arbeitsplatz in einem Unternehmen verfügbar ist, wird ein neuer Job im gemeinnützigen Bereich geschaffen.
Durch das Projekt entstehen keine zusätzlichen Kosten, denn anstatt Arbeitslosigkeit mit Sozialleistungen zu finanzieren, finanziert MAGMA neue Arbeitsplätze.
Erste Ergebnisse der wissenschaftlichen Analyse bestätigen den Erfolg: Es gibt in Gramatneusiedl keine Langzeitarbeitslosigkeit mehr, stattdessen Teilnehmer:innen, denen der Sprung in den regulären Arbeitsmarkt bereits nach einem Jahr wieder gelungen ist. Auch der Gesundheitszustand der Teilnehmer:innen hat sich bereits nach einem Jahr gebessert, die Anzahl derer, die an Angstzuständen, Schlafstörungen oder Hauterkrankungen leiden, ist gesunken. Die Jobgarantie stärkt nicht nur langzeitarbeitslose Menschen, sie stärkt auch allgemein die Position der Arbeitnehmer:innen, da dadurch ein Gegenpol zum regulären Arbeitsmarkt mit seinen häufig prekären Arbeitsbedingungen geschaffen wird.

Die Erhöhung des Arbeitslosengeldes reduziert Armut und schafft neue Arbeitsplätze!
Eine weitere Maßnahme zur Schaffung neuer Arbeitsplätze ist die Erhöhung des Arbeitslosengeldes. In der vom Europäischen Zentrums für Wohlfahrtspolitik und Sozialforschung kürzlich veröffentlichten Studie wird eine Erhöhung der Nettoersatzrate des Arbeitslosengeldes von 55 auf 70 % simuliert. Die Ergebnisse zeigen, dass bis zu 14.000 neue Arbeitsplätze geschaffen und rund 37.300 Menschen vor Armut geschützt werden könnten. Langzeitarbeitslose Menschen, die auf Leistungen der Notstandshilfe angewiesen sind, würden davon am meisten profitieren. Die Erhöhung des Arbeitslosengeldes stärkt über den zusätzlichen Konsum die gesamte Wirtschaft, weil in diesen Einkommensgruppen jeder Euro eins zu eins wieder ausgegeben wird. Mittelfristig bringt das auch neue Jobs.


Was die Reform außerdem angehen müsste
Es wird also deutlich, dass weder das von Arbeitsminister Kocher geplante degressive Arbeitslosengeld noch die Streichung der Zuverdienstgrenze vorhandene Probleme lösen. Außerdem bringt es nichts ständig nach unten zu treten und die ohnehin verwundbaren Mitglieder der Gesellschaft noch weiter in die Armut und an den gesellschaftlichen Rand zu drängen. Das löst weder das Problem des Fachkräftemangels, noch werden dadurch neue und menschenwürdige Arbeitsplätze geschaffen. Viel vernünftiger wäre es, sich endlich Gedanken darüber zu machen wie Armut in einem reichen Land wie Österreich verhindert werden kann und wie durch gezielte Investitionen in die Klimawende gleichzeitig gut bezahlte und menschenwürdige Arbeitsplätze entstehen können, die auch einen Mehrwert für die Gesellschaft haben.

Zum Weiterlesen:

  • Raml, R. / Tamesberger, D. / Waldhauser, A. (2021): Kein Auskommen mit dem Arbeitslosengeld in Österreich, online
    hier
  • Premrov, T. / Geyer, L. / Prinz, N. (2022): Verteilungswirkung und Kosten einer Anhebung der Nettoersatzrate des
    Arbeitslosengeldes in Österreich, online hier
  • Premrov, T. & Woltran, I. (2022): Erhöhung des Arbeitslosengeldes bringt weniger Ungleichheit, mehr Einkommen,
    steigert Beschäftigung und verringert Armut, online hier
  • Waldhör, N. (2022): Welchen Wohlfahrtsstaat wollen wir? online hier
  • Marie Jahoda – Otto Bauer Institut: Die soziale Bedeutung von Arbeit, online hier

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