Österreichs Weg in die illiberale Demokratie

by Nora Waldhör

Das V-Dem-Institut an der Universität Göteborg stufte Österreich von einer liberalen Demokratie zu einer Wahldemokratie  herab, und damit in die schlechtere der beiden Demokratiekategorien. Ein Grund liegt in der Wandlung der ÖVP von einer  konservativen Volkspartei zu einer Partei des radikalisierten Konservatismus. Von Natascha Strobl. Zur PDF-Version.
Das Nachkriegssystem Österreichs brachte zwei hegemoniale Parteien hervor, eine sozialdemokratische und eine  konservative. SPÖ und ÖVP stabilisierten mit ihrer Größe und gesellschaftlichen Durchdringung dieses Nachkriegssystem, das auf einem marktwirtschaftlich kapitalistischen System – eingehegt durch einen starken Sozialstaat – beruhte. Die beiden Parteien teilten sich, auch und gerade in Konkurrenz zueinander, die politische Macht. Dazu kamen österreichische Spezifika wie die Sozialpartnerschaft, die das Aushandelsprinzip zwischen den Parteien auch auf die Ebene von  Lohnverhandlungen legte. Dieser Konsens war von Anfang an prekär und produzierte viele Ein- und Ausschlüsse. Die Geschichte des österreichischen politischen Systems und der Sozialpartnerschaft sind an anderer Stelle in aller gebotenen Differenzierung nachzulesen, etwa bei Emmerich Tálos (2019) und Michael Strohmer (2005).

Der zerbröckelte Konsens
Dieser Konsens zwischen den beiden Parteien geriet aber mit Abnahme der Zustimmung zur Großen Koalition zunehmend ins Wanken. Immer wieder kam es in der Zweiten Republik zu Alleinregierungen, von 1983 bis 1986 dann zu einer Koalition von SPÖ und FPÖ, die nach der Parteiübernahme durch den völkischen Flügel um Jörg Haider beendet wurde. Nach den Nationalratswahlen 1999 bildete 2000 die ÖVP unter Wolfgang Schüssel (die bei den Wahlen Dritte wurde) eine Koalition mit der klar völkisch ausgerichteten FPÖ. Danach gab es ein kurzes Revival der Großen Koalition, bis Sebastian Kurz die FPÖ (dieses Mal unter Heinz-Christian Strache) 2017 erneut zur Koalitionspartnerin machte, was sehr
rasch durch die Ibiza-Affäre ein Ende fand. 2020 kam es dann zu einer Koalition zwischen
ÖVP und Grünen.
Nachfolgend wird dargelegt, worin die Zäsur der Ära Kurz besteht und wie sie zu einer Autoritarisierung
der politischen sowie medial-öffentlichen Sphäre beiträgt und so den Weg Österreichs in eine illiberale Demokratie ebnet.

Der Bruch mit dem Status Quo
Sebastian Kurz wurde als Parteiobmann der Jungen ÖVP 2011 Integrationsstaatssekretär und 2013 Außenminister. Beides geschah in einer Großen Koalition. Besonders in seiner Ministerrolle sabotierte er die Zusammenarbeit in der Regierung immer wieder. Die internen Grabenkämpfe entschied er schließlich für sich, als der damalige Parteiobmann Reinhold Mitterlehner entnervt das Handtuch warf. Sebastian Kurz löste daraufhin umgehend die Große Koalition auf und ging als Parteichef in Neuwahlen. Der Bruch
mit der Großen Koalition ist in der Inszenierung Sebastian Kurz’ ein Bruch mit dem Nachkriegskonsens. Die Idee einer neuen Art von Politik, die sich auch im Namen der nunmehr „Neuen Volkspartei“ widerspiegelte, steht in direkter Abgrenzung zur Nachkriegspolitik der beiden hegemonialen Parteien. Die Abgrenzung besteht also nicht nur gegenüber der Sozialdemokratie, sondern auch zur eigenen Partei. Die Aufgabe des Status quo veränderte die eigene strategische Positionierung im politischen System. Die
Volkspartei unter Sebastian Kurz hatte nicht mehr die Aufgabe, möglichst staatstragend und stabilisierend zu wirken, sondern wurde ein kalkulierter und gewollter Destabilisierungsfaktor. Das Ziel war nicht mehr die Bewahrung des Bestehenden, sondern die Überwindung einer als ungenügend empfundenen  Gegenwart. Dieses „Neue“ blieb schemenhaft, orientierte sich aber zunehmend am Kulturkampf der extremen Rechten, also einer klar autoritäreren und polarisierten Version der Zukunft.

Merkmale des radikalisierten Konservatismus
Der radikalisierte Konservatismus zeichnet sich durch verschiedene Merkmale aus, die ihn von seiner staatstragenden Form unterscheiden.

1. Inszenierter Bruch mit Regeln:
Das können formelle Regeln sein wie Gesetze oder bürokratische Verfahrensläufe. Es sind aber vor allem die informellen Regeln, die gebrochen werden. Das sind Regeln des Anstands, der Etikette oder der symbolisch aufgeladenen Tradition. In Österreich war Letzteres zum Beispiel der Fall, als Bundeskanzler Sebastian Kurz und das ÖVP-Regierungsteam 2021 nicht an den Befreiungsfeiern zum 8. Mai in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen teilnahmen. Die Gedenkfeiern in Mauthausen sind der gedenk- und symbolpolitische Kitt der Zweiten Republik. Davor und danach gab es aber viele kleine Regelübertretungen, die (gewünschte) Aufregung produzierten und Raum in den Medien bekamen.

2. Strategie der Polarisierung:
Polarisierung funktioniert im radikalisierten Konservatismus mit der Übernahme der Kulturkampf-Strategie der extremen Rechten. Das bedeutet, Anekdoten und Alltagsbegebenheiten in einen größeren Bedeutungszusammenhang einer kulturellen Bedrohung durch verschiedene Minderheiten zu stellen. So werden gesellschaftliche Spaltungslinien verstärkt und symbolisch aufgeladen. Diese Polarisierung erfolgt vor allem im Zusammenhang mit dem Themencluster Migration und Flucht, aber auch (Queer)Feminismus oder der Imagination einer vermeintlich linken oder zivilgesellschaftlichen Übermacht. Das System Kurz hat diese kulturkämpferischen Polarisierungen immer wieder mit einer Agitation gegen den Sozialstaat verwendet, etwa als Sebastian Kurz meinte, Kürzungen in der Arbeitslosenversicherung seien legitim, weil es in Wien Familien gäbe, bei denen in der Früh nur die Kinder aufstehen. In diesem Satz ist die Agitation gegen die Stadt, gegen Arbeitslose und implizit auch gegen Migrant:innen enthalten, da zuvor bereits Sozialleistungen (zu der wurde das Arbeitslosengeld geframed, obwohl es eine Versicherungsleistung ist) an Sprachkenntnisse geknüpft wurden.

3. Ausrichtung der Partei an einer Führungsperson:
Das bedeutet, dass die Entscheidungsmacht top down organisiert wird. Das geschah etwa beim Erstellen der Wahllisten für den Nationalrat, für die Sebastian Kurz völlig freie Hand erhielt. Nicht zuletzt wurde auch die Partei auf dem Wahlzettel in „Liste Sebastian Kurz – Neue Volkspartei“ umbenannt. Die  Führungsperson wird als Heilsfigur inszeniert und damit über der Politik stehend. Jegliche Angriffe werden als Teil eines Komplotts abgewehrt. Diese Anbetung und Personenzentrierung sind integraler Bestandteil des radikalisierten Konservatismus.

4. Umbau und Aushöhlung von Rechtsstaat und Demokratie:
Dieses zeigt sich entlang sehr vieler Linien, etwa in Angriffen auf Medien, das Parlament, das Justizsystem, den Sozialstaat oder die Zivilgesellschaft. Hier lassen sich die deutlichsten Parallelen zu anderen illiberalen Demokratien wie Ungarn oder Polen erkennen. Kritische Journalist:innen werden von der ÖVP nicht zu Hintergrundgesprächen eingeladen und mit SLAPP-Klagen* überzogen. In der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) sieht man „linke Zellen“ (Kurier 2021) und „politisch motivierte“ (ebd.) Ermittlungen. Der Umbau und die Aushöhlung von Rechtsstaat und Demokratie zeigt sich auch in einer zunehmenden Verunmöglichung des demokratischen Diskurses und der schamlosen Verwendung von Steuergeld für nicht sachdienliche Zwecke, etwa Wahl-Umfragen, fragwürdiger Inseratenpolitik und dem Schaffen von Posten für Getreue.
*SLAPP steht für „Strategic Lawsuits against Public Participation”, was auf Deutsch mit “Strategische Klagen gegen öffentliche Beteiligung” übersetzt wird. Gemeint sind damit Klagen, die allein der Einschüchterung von vorwiegend  Journalist:innen und NGOs dienen.

5. Schaffung einer steuerfinanzierten Infrastruktur, um eine Politik des permanenten Wahlkampfes zu sichern:
Jede Entscheidung, jeder Schritt erfolgt nach einer Wahlkampf- und Umfragenlogik. Es geht immer darum, die nächsten 24 Stunden medial zu gewinnen. Langfristige oder unpopuläre, komplexe Politik ist so nicht möglich.

6. Konstruktion von Parallelrealitäten
Die inszenierte Wirklichkeit wird der faktischen Realität immer mehr entzogen, so dass es gesellschaftlich und politisch schlussendlich keine Übereinkunft über Wahrheit und Fakten mehr gibt.

Demokratie verteidigen
Es ist wichtig, ein grundlegendes Verständnis von Demokratie breit zu diskutieren. Demokratie ist nicht ein inhaltsleerer Slogan, sondern die einzige Basis, auf der egalitäres, solidarisches Zusammenleben möglich ist. Es gibt aktuell sehr viele Gefahren für die Demokratie. Ein auf massiver Ungleichheit aufbauendes Wirtschaftssystem unterläuft sie systematisch. Die traditionelle völkische Rechte arbeitet gegen sie, aber es gibt eben auch konservative Kräfte, die an ihrer autoritären Überwindung werken. Dabei
gehen sie Schritt für Schritt vor. Es ist ein Aushöhlen und kein Zertrümmern mit einem Schlag. Umso wichtiger ist es, rote Linien zu ziehen, Verbündete zu suchen und die Demokratie in keiner  gesellschaftlichen Arena preis zu geben. Wichtig ist aber auch, nicht nur in der Defensive zu verharren, sondern gleichzeitig zu überlegen und zu zeichnen, wie eine solidarische, demokratische Zukunft möglich ist. Eine Zukunft, die nicht nur eine Verteidigung der Gegenwart ist, die schon jetzt für viele nicht ideal ist und die autoritären Kräfte erst hervorgebracht hat.

Zum Weiterlesen:

  • Natascha Strobl (2021): Radikalisierter Konservatismus. Eine Analyse, Suhrkamp Verlag
  • Moment.at (2022): NatsAnalysen, online unter
  • Elis Hirschl (2021): Salonfähig, Hanser Verlag
  • V-Dem Institut (2022): Autocratization Changing Nature? online unter
  • Peter Pilz (2021): Kurz. Ein Regime, Kremayr & Scheriau
  • Emmerich Tálos (2019): Sozialpartnerschaft. Ein zentraler politischer Gestaltungsfaktor
    der Zweiten Republik am Ende? (gem. mit Tobias Hinterseer), Studien Verlag
  • Michael Strohmer (2005): Die Sozialpartnerschaft in Österreich. Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft, Peter Lang GmbH, Internationaler Verlag der Wissenschaften

 

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