Viele Wohlfahrtsstaaten sind seit Anfang der 1980er Jahre im Wandel. Doch wie läuft die Veränderung? Von Nora Waldhör. Zur PDF-Version.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden wohlfahrtsstaatliche Systeme in vielen westlichen Industrienationen ausgebaut. Ein Großteil der Menschen erhielt dadurch umfassende soziale Rechte und Absicherung gegen soziale Risiken wie Unfall, Krankheit oder Arbeitslosigkeit. Doch spätestens seit den 1970er Jahren ist hier ein Bruch erkennbar: Die Ära
der Vollbeschäftigung ging in den meisten westlichen Wohlfahrtsstaaten zu Ende. In der Wohlfahrtsstaatenforschung wird in diesem Zusammenhang häufig von einem Umbau des Wohlfahrtsstaates gesprochen. Es ist von einem activation turn in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik die Rede, wonach wohlfahrtsstaatliche Programme zunehmend das Ziel der
möglichst schnellen (Wieder-)Eingliederung von arbeitslosen Menschen verfolgen. Diese Entwicklungen, die in vielen europäischen Wohlfahrtsstaaten erkennbar sind, werden häufig auch mit dem Begriff Workfare beschrieben. Aber wie haben sich die Wohlfahrtsstaaten in Deutschland und Österreich konkret verändert?
Aktive Arbeitsmarktpolitik in Deutschland und Österreich
Die Arbeitsmarktpolitik in Deutschland und Österreich – beides konservative Wohlfahrtsstaaten nach dem Soziologen und Politikwissenschafter Gøsta Esping-Andersen – wurde lange Zeit als passiv beschrieben, d.h. dass arbeitsmarktpolitische Maßnahmen hauptsächlich das Ziel verfolgten, die wirtschaftlichen Folgen von Arbeitslosigkeit für die Betroffenen abzufedern. Beispiele für passive Arbeitsmarktpolitik sind u.a. Lohnersatzzahlungen wie das Arbeitslosengeld oder Frühpensionierungen, etc. Im Gegensatz dazu verfolgt aktive Arbeitsmarktpolitik das Ziel der Wiedereingliederung von arbeitslosen Menschen in den Arbeitsmarkt und der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit insgesamt. Beispiele für aktive Arbeitsmarktpolitik sind u.a. staatliche Beschäftigungsprogramme, Maßnahmen zur Förderung beruflicher Mobilität, Weiterbildungs- und Umschulungsprogramme oder Kurzarbeit.
Ein genauer Blick zeigt, dass arbeitsmarktpolitische Programme in Deutschland und Österreich nie rein passiv waren, denn beide Länder verfügten schon lange über Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Deutschland etablierte mit dem Arbeitsförderungsgesetz (AFG) im Jahr 1969 erstmals Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Das Gesetz ergänzte die allgemeine Beschäftigungspolitik und war insofern innovativ, als es die Idee eines vorbeugenden Schutzes, zusätzlich zum eher nachsorgenden Versicherungsgedanken verfolgte. Konkret beinhaltete es drei zentrale Aufgabenfelder, und zwar (1) die Förderung der beruflichen Bildung, (2) den Erhalt und die Schaffung von Arbeitsplätzen und (3) die Arbeitsmarkt- und Berufsforschung.
Ähnlich wie in Deutschland kann auch in Österreich das Arbeitsmarktföderungsgesetz (AMFG) aus dem Jahr 1968 als Geburtsstunde der aktiven Arbeitsmarktpolitik gesehen werden. Durch unterschiedliche Programme wie etwa Arbeitsstiftungen oder Maßnahmen zur Bekämpfung von Langzeitarbeitslosigkeit wie die Aktion 8000 – deren Grundgedanken die Arbeitsmarktpolitik auch heute noch prägen – wurde versucht, Arbeitslosigkeit zu verhindern und die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt zu fördern. Spätestens seit den 1990er Jahren rückte jedoch zunehmend der aktivierende Gedanke in den Vordergrund. Dieser verfolgt das Ziel, durch Leistungskürzungen mehr „Anreize“ für die (Wieder-) Aufnahme einer Beschäftigung zu erzeugen.
Workfare – die Lösung für „ineffiziente“ Wohlfahrtsstaaten?
Seit den Wirtschaftskrisen in den 1970er Jahren und spätestens seit den 1990er Jahren wurden die konservativen und neoliberalen Rufe nach einem schlanken Staat lauter. Wohlfahrtsstaaten gerieten unter Druck und wurden gar als Ursache für hohe Arbeitslosigkeit gesehen, da von Arbeitslosigkeit betroffene Menschen aufgrund von zu großzügigen Leistungen wenig Anreize hätten, um sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren und ein Leben in der sozialen Hängematte bevorzugen würden – so die Erzählung, die auch einen Wandel im Menschbild brachte. Als Lösung dafür galt eine Reorientierung sozial- und arbeitsmarktpolitischer Programme, die mit dem Begriff Workfare beschrieben wird. Charakteristisch dafür ist die Betonung von Eigenverantwortung und die Knüpfung von sozialstaatlichen Leistungen an Gegenleistungen oder Verpflichtungen. Demnach müssen Personen im Falle der Arbeitslosigkeit aktiv beweisen, etwa durch die Anzahl der versendeten Bewerbungen, dass sie auf der Suche nach einem Arbeitsplatz sind, oder sich zumindest darum bemühen. Im Falle der Verweigerung drohen Leistungskürzungen oder der komplette Wegfall des Bezugs.
Workfare-Elemente im deutschen und österreichischen Wohlfahrtsstaat
Auch im deutschen und österreichischen Wohlfahrtsstaatensystem können bestimmte Workfare Elemente identifiziert werden, insbesondere in der Arbeitslosenversicherung, aber auch bei den Mindestsicherungssystemen der jeweiligen Länder. In Österreich stieg durch Reformen in der Arbeitslosenversicherung der Druck auf arbeitslose Menschen, die Leistungshöhe wurde gekürzt und Zumutbarkeitskriterien verschärft. Aber auch im Mindestsicherungssystem der Sozialhilfe (früher die Bedarfsorientierte Mindestsicherung, kurz: BMS) wurden mehr Anreize zur (Wieder-)Aufnahme einer Beschäftigung geschaffen, wie etwa Freibeträge im Fall der (Wieder-)Aufnahme einer Beschäftigung. In Deutschland wurde durch die vier Gesetze für Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, auch bekannt als Hartz-Gesetze, die Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe zusammengeführt. Die Arbeitslosenhilfe in Deutschland war vergleichbar mit der Notstandshilfe in Österreich, und stellte – wie auch die Notstandshilfe – als indirekte Sozialversicherungsleistung das zweite soziale Auffangnetz im Fall von Arbeitslosigkeit dar. Der Druck auf arbeitslose Menschen ist dadurch enorm gestiegen, da sich arbeitslose Menschen bemühen müssen, möglichst schnell wieder eine Beschäftigung zu finden. Gelingt das nicht, droht nach dem Auslaufen des Arbeitslosengeldes die Abhängigkeit von Arbeitslosengeld II (umgangssprachlich bekannt als Hartz IV), das wesentlich niedriger und in seinen Regelungen wesentlich strenger ist. So muss eine Person, die Arbeitslosengeld II bezieht das eigene Vermögen zuvor aufbrauchen, hinzugerechnet wird auch das Vermögen von anderen Personen, die im selben Haushalt leben. Aber auch andere Maßnahmen wie etwa die Verschärfung der Zumutbarkeitskriterien haben den Druck auf Bezieher*innen von Arbeitslosengeld II verschärft.
Nicht nur der Druck auf arbeitslose Menschen wuchs, sondern durch Reformen in den letzten Jahrzehnten wurden auch die Arbeitsmärkte allgemein flexibilisiert. Dadurch verschlechterte sich die Position der Gewerkschaften, aber auch der Arbeitnehmer*innen. Der EU kam in diesem Zusammenhang eine wesentliche Rolle zu. Im Rahmen der Europäischen Beschäftigungsstrategie wurde den nationalen Regierungen empfohlen, die Beschäftigungsfähigkeit der Arbeitnehmer*innen durch aktive Arbeitsmarktpolitik zu erhöhen. Gleichzeitig sollten passive Lohnersatzleistungen, insbesondere die Arbeitslosenversicherung und soziale Mindestsicherungssysteme, „anreizkompatibel“ gestaltet werden.
Ein Blick in die Statistik zeigt, dass im Jahr 2020 durchschnittlich 207.122 Menschen in Österreich Mindestsicherungsleistungen der Sozialhilfe bezogen, 73.922 von diesen Bezieher*innen waren Kinder. Außerdem erhielten 2020 rund 2/3 der Bedarfsgemeinschaften, die Leistungen der Sozialhilfe bezogen, lediglich einen Teilbezug und nicht den vollen Bezug. Gründe dafür sind, dass Menschen trotz Erwerbsarbeit ein zu geringes Einkommen erzielen oder dass die Leistungen aus einem vorgelagerten sozialen Sicherungsnetz wie der Arbeitslosen- oder Pensionsversicherung schlicht zu niedrig sind und sie deshalb die Sozialhilfe aufstocken.
Wir brauchen einen Wohlfahrtsstaat, der alle vor Armut schützt!
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, inwieweit Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, die den Druck auf Leistungsbezieher*innen zur (Wieder-)Aufnahme einer Beschäftigung durch Leistungskürzungen etc. erhöht sinnvoll ist. Reformen der letzten Jahrzehnte erwecken eher den Anschein, als wollte man statt Arbeitslosigkeit und Armut, davon betroffene Menschen bekämpfen. Obwohl nichts dagegen spricht Arbeitslosigkeit oder Armut durch aktive Arbeitsmarktpolitik zu verhindern, so sollte dies nicht nur durch Zwang und Druck passieren. Zwar gibt es im österreichischen und deutschen Wohlfahrtsstaat auch Maßnahmen, die unterstützend und befähigend wirken. Allerdings zeigen aktuelle Debatten zur Reform des Arbeitslosengeldes, dass der Druck auf arbeitslose Menschen in Zukunft vermutlich noch höher werden wird. Denn bereits im Frühjahr 2021 wurde über die Einführung eines degressiven Arbeitslosenmodells diskutiert. Im Raum steht außerdem die mögliche Abschaffung bzw. Begrenzung eines Zuverdiensts im Falle von Arbeitslosigkeit. Kritiker von Hartz IV argumentieren, dass durch Hartz IV prekäre und atypische Beschäftigung stark zugenommen hat. Das wiederum hat das Problem von Armut trotz Erwerbstätigkeit verschärft, da der Niedriglohnsektor in Deutschland sich stark vergrößert hat. Aus diesen Fehlern sollte Österreich lernen, da diese auch in Deutschland teilweise bereits korrigiert werden. Spannend bleibt hier also die geplante Reparatur von Hartz IV durch die kürzlich gebildete Ampelkoalition.
Sinnvoller, als den Druck auf Sozialleistungsbezieher*innen noch weiter zu erhöhen wäre eine Arbeitszeitverkürzung, um Arbeit gerecht auf alle Mitglieder der Gesellschaft zu verteilen. Aber es braucht auch eine Jobgarantie, um ein Gegenpol zum regulären Arbeitsmarkt mit den immer öfter niedrigen Gehältern und prekären Arbeitsbedingungen zu schaffen. Das Ziel der Arbeitsmarktpolitik muss wieder Vollbeschäftigung und die Sicherstellung von menschenwürdigen Arbeitsplätzen, im Sinne eines Rechts auf Arbeit, sein.
Denn mehr Druck auf arbeitslose Menschen schafft keine neuen Arbeitsplätze mit fairen Löhnen und menschenwürdigen Arbeitsbedingungen. Zur umfassenden sozialen Absicherung muss die Sozialhilfe in Österreich endlich armutsfest gestaltet werden. Leistungen müssen erhöht werden und der Zugang gelockert werden. Außerdem braucht es einen Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen, da derzeit nicht alle Menschen, insbesondere Frauen, die Möglichkeit haben, einer Erwerbsarbeit nachzugehen, obwohl sie das vielleicht sogar möchten.
Zum Weiterlesen:
• Atzmüller, Roland (2009): Die Entwicklung der Arbeitsmarktpolitik in Österreich. Dimensionen von Workfare in der österreichischen Sozialpoltik, Kurswechsel, Heft 4/2009, pp. 24-34
• Butterwegge, Christoph (2018): Hartz IV und die Folgen. Auf dem Weg in eine andere Republik, 3. aktualisierte Auflage, Weinheim: Beltz Juventa
• Peck, Jamie (2003): The Rise of the Workfare State, Kurswechsel, Heft 3/2003, pp. 75-87
• Fink, Marcel / Leibetseder, Bettina (2019): Die Österreichische Mindestsicherungsreform 2010: Von der Armuts- zur Arbeitsmarktpolitik, OZP – Austrian Journal of Political Science 48(1), pp. 19-36