Otto Bauer: Utopie und Wirklichkeit

by Johannes Rendl

Der einflussreichste sozialdemokratische Politiker der 1. Republik wird 140 Jahre alt, das von ihm verfasste „Linzer Programm“ wird 95. Seine Ideen sind bis heute wegweisend. Von Bernd Dobesberger. Zur PDF-Version.

Otto Bauer war die prägendste Figur der österreichischen Sozialdemokratie in der ersten Republik. 1881 als Sohn einer jüdischen Fabrikantenfamilie in Wien geboren, wuchs er im heutigen Tschechien, in Meran und Wien auf. Standesgemäß besuchte er das Gymnasium und entwickelte bereits als Jugendlicher Interesse an sozialistischen Ideen. Nach der Matura studierte er an der Universität Wien Rechtswissenschaft und Nationalökonomie, 1906 promovierte er. Schon 1900 hatte er sich der Sozialdemokratie angeschlossen, 1907 wurde er auf Vorschlag des Parteiführers Victor Adler Sekretär der sozialdemokratischen Reichsratsfraktion. Nach dem 1. Weltkrieg – Bauer war als Offizier an der Front und vom Herbst 1914 bis 1917 in russischer Kriegsgefangenschaft gewesen – wurde er wenige Monate Außenminister der neugegründeten (deutsch)österreichischen Republik. Von 1919 bis 1934 war er Abgeordneter im Nationalrat, dort faktisch Klubobmann und er wurde, obwohl er nicht Parteiobmann war, die bestimmende Person der SDAP. Bauer war nicht nur Parteiführer, er war insbesondere auch Theoretiker und politischer Publizist. Im Februar 1934 musste Bauer ins Exil, zuerst nach Brünn in der Tschechoslowakei, dann nach Brüssel und Paris. Dort starb Otto Bauer im Juli 1938 an einem Herzinfarkt.

 


Otto Bauer am Schreibtisch, 1919. Foto: Robert Sennecke

 

Otto Bauer fasziniert in seiner Vielschichtigkeit, er war natürlich als Politiker Praktiker, er war aber auch Propagandist und Volksbildner der Sozialdemokratie, eine Vielzahl seiner Artikel und Broschüren zeigen seine Qualität auf diesen Feldern. Und Otto Bauer war wahrscheinlich der wichtigste Theoretiker der europäischen Sozialdemokratie der Zwischenkriegszeit. Bauer publizierte Arbeiten zur Nationalitätenfrage, zur politischen Entwicklung in Österreich oder zu wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Themen. Er inspirierte auch viele andere Menschen direkt oder indirekt.
Beispielsweise die junge Forscherin und Sozialistin Marie Jahoda. Otto Bauer schlug ihr vor das Phänomen der Arbeitslosigkeit im Arbeiterviertel Marienthal in Gramatneusiedl genauer zu erforschen. Daraus entstand die wegweisende Studie “Die Arbeitslosen von Marienthal”.

Die soziale Demokratie
Otto Bauer feierte, dass in Österreich nach dem 1. Weltkrieg durch die politische Revolution die Monarchie und der privilegierte Adel beseitigt und das Zensuswahlrecht auf Länder- und Gemeindeebene abgeschafft worden war: „Alle politischen Vorrechte sind vernichtet. Alle Staatsbürger ohne Unterschied der Klasse, des Standes, des Geschlechts sind jetzt Bürger gleichen Rechts.“ Die Republik und ihre Verfassung mit dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht, der Gewaltenteilung, dem Verbot jeder Zensur etc. wurden von Otto Bauer als große Errungenschaft betrachtet. Er ging immer davon aus, dass es der Sozialdemokratie in demokratischen Wahlen gelingen würde, in absehbarer Zeit die absolute Mehrheit der Stimmen und der Mandate im Parlament zu erringen. Und bei der darauffolgenden Übernahme der Regierungsmacht würde die SDAP die Demokratie nicht beseitigen, sondern ausbauen.
Nur wenn die Rechten gegen eine sozialdemokratische und demokratisch gewählte Regierung putschen sollten, dann wollte die Arbeiter*innenbewegung die demokratische Republik mit den Mitteln der Diktatur verteidigen. Über die entsprechende Passage des „Linzer Programms“ von 1926 kann begründet kritisch diskutiert werden, aber als Beleg für eine antidemokratische Gesinnung von Bauer und der Sozialdemokratie taugt sie nicht. Dieser Programmabsatz wird trotzdem immer wieder dafür verwendet, um zu behaupten, dass die Sozialdemokratie – so wie die Christlichsozialen – die Beseitigung der Demokratie in der 1. Republik betrieben hätten.
Bauers Vorstellung war, dass mit der Republik und deren Verfassung die „politische Revolution“ in Österreich gelungen war und damit ein wesentlicher Fortschritt gerade auch für die Arbeiter*innen erreicht worden war. Bauer und die Sozialdemokratie wollten diesem ersten Schritt der Demokratisierung aber einen zweiten Schritt folgen lassen: mit der „sozialen Revolution“ sollte auch die Wirtschaft demokratisiert werden und damit die zentralen Ursachen von Ungleichheit und Ausbeutung überwunden werden. Nach Bauers Überlegungen war dabei die politische Revolution eine
Aufgabe, die in kurzer Zeit machbar ist, die soziale Revolution aber ein langsamer, jahrelang dauernder Übergangsprozess.

Vergesellschaftung statt Verstaatlichung – die „Sozialisierungskommission“
Die (politische) Revolution in Österreich war nach kurzer Zeit vollzogen, regiert wurde das Land bis Mitte 1920 von einer Koalitionsregierung unter der Führung des Sozialdemokraten Karl Renner. Otto Bauer war von Herbst 1918 bis Sommer 1919 Außenminister und 1919 war er auch (gemeinsam mit Ignaz Seipel) Vorsitzender der „Sozialisierungskommission“ des Parlaments. Die Hoffnung der Sozialdemokratie war es damit den langen Prozess der „sozialen Revolution“ steuern zu können. Doch die politischen Kräfteverhältnisse begannen sich zu drehen, damit gelang es den bürgerlichen Parteien die Arbeit der Sozialisierungskommission ins Leere laufen zu lassen, entscheidende Gesetzesvorschläge wurden nicht mehr beschlossen. Nur das Betriebsrät*innengesetz, das auf ihre Initiative hin im Parlament beschlossen wurde, war von Bedeutung.
Doch Bauers Ideen für den Sozialisierungsprozess sind bis heute interessant und zeigen auch die Vielschichtigkeit seiner Überlegungen. Otto Bauer wollte – auch in Abgrenzung zu den russischen Bolschewiki – keine „Verstaatlichung“, er wollte eine „Vergesellschaftung“ der Unternehmen. Bauers Plan sah eine Sozialisierung jener Branchen vor, die bereits in Großunternehmen organisiert waren, z.B. der Schwerindustrie. Die vergesellschafteten Industriezweige sollten von drittelparitätisch zusammengesetzten „Verwaltungsräten“ geleitet werden. Die Gewerkschaften der Beschäftigten der Branche würden das erste Drittel nominieren, das zweite die Konsument*innen des Industriezweigs und nur das letzte Drittel würde von den Vertreter*innen des Staates bestimmt. Bauers Plan sah eine Entschädigung für die bisherigen Eigentümer*innen der Unternehmen vor, deren Betriebe sozialisiert werden sollten. Finanzieren wollte er das Unterfangen mit einer progressiven Vermögensabgabe.

 

Wer soll nun die vergesellschaftete Industrie verwalten? Durchaus nicht die Regierung. Wenn die Regierung alle möglichen Betriebe beherrschte, dann würde sie dem Volk und der Volksvertretung gegenüber allzu mächtig; solche Steigerung der macht der Regierung wäre der Demokratie gefährlich.

Otto Bauer (1919) in „Der Weg zum Sozialismus“

 

Die Verstaatlichungen in Österreich am Beginn der 2. Republik waren umfassender als die Vorschläge von Otto Bauer nach dem 1. Weltkrieg, allerdings waren sie eben „Verstaatlichungen“ und sie waren auch nicht Teil eines organisierten Prozesses zur Überwindung des Kapitalismus.

Antworten auf die Wirtschaftskrise: Arbeit für 200.000
Der Staat sollte nach Otto Bauer aber nicht nur bei vergesellschafteten Unternehmen kein zentraler Akteur sein, auch ganz generell sah er staatliche Aktivitäten in der kapitalistischen Wirtschaft (fast) nur negativ. Wenn Beamte und Politiker*innen in den kapitalistischen Wirtschaftsprozess eingreifen, würde das nur den Verlust von Produktivität durch Bürokratie mit sich bringen. Und für Bauer war der Staat im Kapitalismus immer ein Staat der Kapitalist*innen, daher würde jede staatliche Intervention letztendlich wieder nur den Kapitalist*innen nutzen. Selbst in der großen Weltwirtschaftskrise ab 1929, die gerade auch Österreich schwer traf, blieb er dabei. Für Bauer konnten die systemimmanenten Krisen des Kapitalismus nur in der kapitalistischen Logik überwunden werden. Der einzig für ihn denkmögliche Ausweg aus diesen Krisen war die sozialistische Überwindung des Kapitalismus. Auch noch in seinem Buch „Zwischen zwei Weltkriegen?“, 1936 in Bratislava veröffentlicht, kritisiert er Überlegungen von John Maynard Keynes oder die Praxis des New Deal in den USA.

Es zeigt von der Klarsichtigkeit aber auch der Widersprüchlichkeit von Otto Bauer, dass er im Sommer 1933 bei einem Gewerkschaftskongress ein großes Referat hielt, das unter dem Titel „Arbeit für 200.000“ bekannt geworden ist.
Darin legte er einen konkreten Plan für staatliche Aktivitäten vor, die 200.000 Arbeitsplätze in Österreich schaffen sollten. 60.000 Arbeitslosen wollte Bauer auf Staatskredit so kollektivvertraglich bezahlte Jobs verschaffen. Eine gegenseitige Export- und Importoffensive der ehemaligen Länder der Habsburgermonarchie hätte nach seinem Plan weitere 60.000 Arbeitsplätze schaffen sollen. Zusätzlich sollten 80.000 Menschen Arbeit durch eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit von 48 auf 40 Stunden finden. Derartige Maßnahmen gehören bis heute zum Repertoire fortschrittlicher Politik zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit.
Für die politische Debatte in Mitteleuropa waren derartige Überlegungen 1933 wegweisend, aber sie kamen für Österreich zu spät. Die Regierung Dollfuß hatte sich bereits auf den Weg zur endgültigen Beseitigung der Demokratie gemacht.

Was bleibt von Otto Bauer?
Als Politiker hatte Otto Bauer ohne Zweifel Erfolge zu verzeichnen: Die sozial- und demokratiepolitischen Errungenschaften der Jahre 1918 bis 1920 hat er miterreicht. Bauer war damit auch mitverantwortlich dafür, dass es in Österreich faktisch zu keiner Spaltung der Arbeiter*innenbewegung nach dem 1. Weltkrieg kam. Die guten Wahlergebnisse der Sozialdemokratie auf Bundesebene zwischen 1919 und 1931 sind auch ihm zu verdanken. Seine Überlegungen etwa zu einem staatlichen Job-Programm oder zur Arbeitszeitverkürzung sind auch heute – besonders in der derzeitigen Krise – mehr als aktuell. Genauso verdanken wir ihm heute noch Errungenschaften wie das Betriebsrät*innengesetz in Österreich. Auf der anderen Seite hatte er als Politiker aber auch keine Antwort auf die faschistische Offensive gefunden und war damit bei der Beseitigung der demokratischen Republik und der Arbeiter*innenbewegung durch den österreichischen Faschismus nur Passagier. Als Publizist hat Bauer unzählige Artikel und Broschüren verfasst. Sie sind Musterbeispiele für verständliche Texte, die komplizierte Analysen und vielschichtige Überlegungen für „ganz gewöhnliche“ Menschen zugänglich machen. Als politisch-wissenschaftlicher Schriftsteller hat Otto Bauer mehrere Bücher – auch sie sind gut lesbar – hinterlassen, die nicht vergessen werden sollen. Im marketing- und umfragegetriebenen Politikbetrieb von heute muss Otto Bauers Verständnis von Politik und Gesellschaft als sinnvolle Alternative begriffen werden!

Mehr Infos zur Otto Bauers Leben und Werk unter: jbi.or.at/otto-bauer

Zum Weiterlesen:
• Bauer, Otto (1976): Werkausgabe in 9 Bänden, Wien, Europa Verlag.
• Bauer, Otto (2017): Der Weg zum Sozialismus, Ausgewählte Schriften; Bd. 1, Wien, Thomas Gimesi.
• Bauer, Otto (2017): Zwischen zwei Weltkriegen?, Ausgewählte Schriften; Bd. 2, Wien, Thomas Gimesi.
• Bauer, Otto (2017): Die österreichische Revolution, Ausgewählte Schriften; Bd. 4, Wien, Thomas Gimesi.
• Bauer, Otto (2017): Die Sozialisierungsaktion im ersten Jahre der Republik, Ausgewählte Schriften; Bd.5, Wien, Thomas Gimesi.
• Bauer, Otto (2021): Der Aufstand der österreichischen Arbeiter, Wien, ÖGB Verlag.
• Hanisch, Ernst (2011): Der große Illustionist: Otto Bauer, Wien, Böhlau Verlag.
• Saage, Richard (2021): Otto Bauer: Ein Grenzgänger zwischen Reform und Revolution, Münster, LIT Verlag.
• Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschösterreichs (1926): Das Linzer Programm (letzter Abruf: 23. 08. 2021)
• Stiefel, Dieter (1979): Arbeitslosigkeit: Soziale, politische und wirtschaftliche Auswirkungen. Am Beispiel Österreichs 1918 – 1938, Berlin, Duncker & Humboldt.

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