24-Stunden-Betreuung: Gute Betreuung zu Hause – gute Arbeit im Ausland?

by Johannes Rendl

Eine vierjährige Untersuchung an der JKU Linz zeigt: Die Win-Win-Win-Erzählung in der sogenannten 24-Stunden-Betreuung ist nur bedingt Wirklichkeit. Von Brigitte Aulenbacher, Michael Leiblfinger& Veronika Prieler. Zur PDF-Version.

In der sogenannten 24-Stunden-Betreuung wird oft eine dreifache Gewinnrechnung aufgemacht: Ältere Menschen werden versorgt, Angehörige entlastet und Betreuungskräfte im Ausland erwerbstätig. Win-win-win ist Erzählung, aber nur bedingt Wirklichkeit. Das zeigt das Projekt „Gute Sorgearbeit?“, eine vierjährige Untersuchung an der Johannes Kepler Universität Linz. 24-Stunden-Betreuung – wissenschaftlich: Live-in-Betreuung – ist in Österreich seit ihrer Legalisierung 2007 eine wichtige Betreuungs- und Pflegeform. Anfang 2020 haben rund 62.000 Betreuungskräfte – meist Frauen aus Mittel- und Osteuropa – etwa 33.000 pflegebedürftige Personen in deren Privathaushalten betreut, wobei die Vermittlung vielfach durch eine der mehr als 800 Agenturen erfolgt. Üblicherweise wechseln sich zwei Betreuer*innen in zwei- bis vierwöchigen Schichten ab und verbringen die restliche Zeit in ihren Heimatländern.
Die Betreuten sind in allen Pflegestufen vertreten; ab Stufe 3 gibt es eine staatliche Förderung. Obwohl eine Anstellung bei Wohlfahrtsträgerinnen oder Privathaushalten möglich ist, sind beinahe alle Betreuungskräfte selbstständig. Dieses Modell gilt in anderen Ländern, etwa Deutschland oder der Schweiz, Agenturen und ihren Verbänden als Vorbild: „Betreuungskräfte in Österreich können wählen (…). 95 % entscheiden sich (…) für die Selbständigkeit“ – so eine deutsche Agentur. Real gibt es aber keine Wahl, da Anstellungsverhältnisse kaum angeboten werden.

Vermittlungsagenturen und die formelle Seite der Live-in-Betreuung
Live-in-Betreuung kommt oft aus der Not zustande. Ältere Menschen und ihre Angehörigen sind teils kurzfristig mit Betreuungs- oder Pflegebedarf konfrontiert. Betreuungskräfte finden in ihren Herkunftsländern kein hinreichendes Einkommen und streben daher eine Tätigkeit in Westeuropa an. Agenturen organisieren Dienstleistungen im weiten Spektrum von Haushaltsarbeit bis hin zu (fachlich delegierten) einfachen medizinischen oder pflegerischen Tätigkeiten, indem sie Betreuungskräfte rekrutieren, in Haushalte vermitteln und deren Arbeit in unterschiedlichem Umfang begleiten.

Oft ist Live-in-Betreuung in einem Vertragsdreieck zwischen Agentur und Betreuten/Angehörigen, Agentur und Betreuer*in, Betreuer*in und Betreuten/Angehörigen geregelt, wobei die Agentur als Dienstleisterin für Haushalte und Betreuer*innen auftritt. Die Belange der Betreuten und Angehörigen, welche für die Vermittlungsgebühren und monatlichen Agenturpauschalen allein oder hauptsächlich aufkommen, haben aber vielfach Vorrang.

Die Agenturvermittlung prägt das Dienstleistungsangebot und die Arbeitsbedingungen in der sogenannten 24-Stunden-Betreuung maßgeblich. Verträge sollen dem Status der Angestellten so nahekommen, wie es nur irgendwie geht. Gleichzeitig haben Betreuungskräfte aber nicht die gleichen Rechte wie Angestellte. Unter anderem diese kritisierte Praxis setzt die agenturvermittelte Live-in-Betreuung einerseits dem Verdacht der Scheinselbstständigkeit aus. Andererseits sind Agenturen, die sich auf Qualitätsstandards verpflichten, Treiber der Formalisierung und Professionalisierung des Selbstständigenmodells und begegnen auch damit Strategien wie Preisdumping.
Das österreichische Qualitätszertifikat ÖQZ-24 für Vermittlungstätigkeit, um das sich Agenturen bewerben können, ist u.a. ein Ergebnis ihrer Lobbyarbeit.

Worum es bei der „guten Betreuung“ und der „guten Familie“ geht
Betreute und Angehörige wünschen sich „gute Betreuung“, Betreuungskräfte eine „gute Familie“. Es treffen zwei verwundbare Personen(gruppen) aufeinander: einerseits alte, oft gebrechliche Menschen, die zu Hause leben wollen und Betreuung und Pflege bedürfen; andererseits Migrant*innen, die ihr Leben im eigenen Zuhause turnusmäßig aussetzen, um mangels Alternative im Ausland zu arbeiten, und auf eine gute Behandlung im fremden Haushalt hoffen. Sie kennen einander nicht – in der Regel ist der erste Arbeitstag der Tag des Kennenlernens – und leben miteinander in der Intimität des Privaten. Unbenommen des Vertragsdreiecks und aller Maßnahmen von Agenturen, eine Passung zwischen Betreuten, Angehörigen und Betreuungskräften im sogenannten Matching vorab zu erzeugen, wird im Haushalt auch informell darüber entschieden, wie Live-in-Betreuung praktiziert wird. Dabei erweist sich der Haushalt als schwieriger Arbeitsplatz. Beispiele sind Konflikte um Kost (Verpflegung und Haushaltsgeld), Logis (eigenes, absperrbares Zimmer für Betreuer*innen) und Pausen; Gefühlsarbeit (Bearbeitung von Eifersucht der Angehörigen auf die Nähe von Betreuer*in und Betreuten; die Betreuung der fremden Person „mit Liebe“); Gewalt (gegenüber den Betreuten; sexuelle Belästigung der Betreuer*innen); 24-Stunden-Verfügbarkeit und Erwartung von Zusatzarbeiten (wie Holzhacken, Schneeräumen, Kochen und Bügeln für Verwandte der Betreuten). Wie lebbar für alle Beteiligten die Betreuung zu Hause und die Arbeit im Ausland ist, entscheidet sich nicht zuletzt im Informellen. So machen Agenturen bei Qualitätsvisiten die Erfahrung, dass „ein familiäres Klima“ mit Zufriedenheit aller Beteiligten einhergehen kann. Oder dass die Unzufriedenheit im Haushalt so groß ist, dass sich Betreuer*innen und Angehörige bei ihnen beklagen und beschweren und es der Mediation bedarf.

Die formelle und informelle Seite der 24-Stunden-Betreuung in der Pandemie
Die COVID-19-Pandemie hat Charakteristika und Schwierigkeiten der Live-in-Betreuung verschärft sichtbar gemacht. Ältere Menschen gerieten als Hochrisikogruppe ebenso in die mediale und politische Aufmerksamkeit wie die Betreuungskräfte, deren Pendelmigration zwischen Österreich und ihren Herkunftsländern durch Grenzschließungen, Test- und Quarantänebestimmungen eingeschränkt war. Erste politische Reaktionen zielten auf die Reisemöglichkeiten der Betreuer*innen ab.
Wesentlich für die Aufrechterhaltung des Live-in-Modells war jedoch, dass Betreuungskräfte bis zu mehreren Monaten bei den Betreuten blieben. Ob der diesbezügliche „Bleib da!“-Bonus in der Höhe von 500 Euro angemessen war, ist strittig; auch ist seine Beantragung aufwändig gewesen. Während Agenturen die Live-in-Betreuung in der Pandemie im Vergleich zur stationären Betreuung mit ihren sogenannten „Corona-Clustern“ als Erfolgsmodell sehen, haben sich die prekären Arbeitsbedingungen vieler Betreuer*innen verschärft. Längere Turnusse und entfallende Pausen bspw. aufgrund reduzierter Besuche von Angehörigen ließen die Arbeitsbelastung häufig steigen. Dazu kamen die verlängerte Trennung von der eigenen Familie und Freund*innen, Einsamkeit oder auch die Ansteckungsgefahr auf den Reisen.

Win-win-win – vor, während, nach der Pandemie?
Die Pandemie bewirkte eine Anerkennung für die Arbeit der Betreuungskräfte, sei es durch Agenturen und Angehörige oder medial vermittelt auf gesellschaftlicher Ebene. Wie sich die Nachfrage nach Live-in-Betreuung in Österreich angesichts drohenden Finanzkraftverlusts der Haushalte entwickeln wird und welche Auswirkungen die anzunehmende steigende Arbeitslosigkeit in den Sendeländern auf das Arbeitskräfteangebot haben wird, bleibt offen. Deutlich wurde jedoch, dass gute Betreuung zu Hause für die einen, Entlastung für die zweiten und gute Arbeit im Ausland für die dritten – also win-win-win – nicht ohne weiteres zusammenpassen. Es bedarf daher kurzfristig zum einen der weiteren Aus- und Umgestaltung der Live-in-Betreuung in einer Art und Weise, dass nicht nur die Vermittlungstätigkeit oder die Dienstleistungen in ihrer Qualität geprüft und verbessert werden, sondern auch die Arbeitsbedingungen. Im Selbstständigenmodell sind Einflussmöglichkeiten in erster Linie darüber gegeben, die staatliche Förderung an entsprechende Kriterien zu binden. Die gegenwärtig wieder artikulierte Forderung nach einem Angestelltenmodell ist eine weiterreichende, daher mittelfristig zu betrachtende Option, da sie mit einer Umgestaltung des Betreuungsmodells vor allem bei arbeits- und sozialrechtlichen Ansprüchen einherginge.
Letztlich und längerfristig wird es darum gehen müssen, den Betreuungs- und Pflegemix insgesamt umzugestalten, alternativen Wohnformen ebenso neuen Stellenwert zu verleihen wie den stationären Sektor und die mobilen Dienste auszubauen und entsprechende Sorgeinfrastrukturen zu schaffen.

Zum Weiterlesen:
• Aulenbacher, Brigitte/Lutz, Helma/Schwiter, Karin (Hg.) (2021): Gute Sorge ohne gute Arbeit? Live-in-Care in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Weinheim und Basel: Beltz Juventa.

Das Buch kann als Ebook kostenlos heruntergeladen werden:
https://www.beltz.de/fachmedien/sozialpaedagogik_soziale_arbeit/buecher/produkt_produktdetails/44322-gute_sorge_ohne_gute_arbeit.html

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