AK Wohlstandsbericht 2021: Gesellschaftlicher Fortschritt in Österreich?

by Johannes Rendl

Gesellschaftlicher Fortschritt in Form einer nachhaltigen Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen findet in Österreich strukturell zu wenig Beachtung. Der AK Wohlstandsbericht will das ändern – mit einem Ausblick auf die erwartete Entwicklung bis 2022. Von Jana Schultheiß & Georg Feigl. Zur PDF-Version.

In wirtschaftspolitischen Debatten ist meistens immer noch das Wirtschaftswachstum – gemessen über die jährliche Veränderung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) – die dominante Kennzahl. Jedoch hat das BIP nur eine beschränkte Aussagekraft für die nachhaltige Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen in einem Land. Wichtige Aspekte für ein gutes Leben wie Gesundheit, Bildung, Gleichstellung, gerechte Verteilung, Mitbestimmung oder ökologische Nachhaltigkeit werden nicht abgebildet. Und Wirtschaftswachstum bedeutet nicht automatisch mehr Wohlstand für alle.

Vermessung des Wohlstands in Österreich
Seit 2018 nimmt die Arbeiterkammer mit dem AK-Wohlstandsbericht die Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen in Österreich unter die Lupe – zusätzlich zur Statistik Austria mit ihrem Projekt „Wie geht’s Österreich?“. Dabei wird an zahlreiche internationale Debatten zu dieser Thematik angeknüpft: Etwa an die Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission, die 2007 vom französischen Präsidenten Nikolas Sarkozy eingesetzt wurde und deren zentrale Botschaft es war, dass Wohlstand und Wohlergehen, Nachhaltigkeit und gesellschaftlicher Fortschritt im Mittelpunkt öffentlicher Debatten stehen sollten – und eben anders zu messen sind. Oder an die Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen: Die 17 Ziele nachhaltiger Entwicklung dienen als Kompass für nachhaltigen Wohlstand und Wohlergehen.

Grundlage für den AK-Wohlstandsbericht bildet das in der AK-Wien modifizierte „magische Vieleck“ der Wirtschaftspolitik mit fünf übergeordneten Zielen: 1) fair verteilter materieller Wohlstand, 2) Vollbeschäftigung und gute Arbeit, 3) hohe Lebensqualität, 4) intakte Umwelt sowie 5) ökonomische Stabilität. Jedem der fünf Ziele werden sechs Indikatoren zugeordnet, sodass insgesamt die (erwartete) Entwicklung von 30 Teilzielen betrachtet wird. Neben den Ist-Daten wird auch ein kurzfristiger Ausblick vorgenommen – so wird im Wohlstandsbericht 2021 der Zeitraum 2017 bis 2022 betrachtet. Aus der interessenpolitischen Bewertung dieser Trends leiten wir Empfehlungen für die nachhaltige Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen ab.

Ergebnisse 2021: Vorkrisenniveau noch nicht wieder erreicht
Die Veröffentlichung des vierten AK-Wohlstandsberichts im Oktober 2021 fiel in die Phase eines starken wirtschaftlichen Aufschwungs. Im Vorjahr hat die durch die Pandemie ausgelöste Sozial- und Wirtschaftskrise zu einem deutlichen Rückschlag für die nachhaltige Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen in Österreich geführt. Zwar fällt die diesjährige Bewertung bereits wieder etwas positiver aus, das Vorkrisenniveau wird aber noch nicht wieder erreicht. Das verdeutlicht einmal mehr, wie wichtig es ist, auch auf andere Indikatoren als das BIP zu schauen. Denn ein BIP-Wachstum allein bedeutet nicht automatisch, dass der Aufschwung bei allen Menschen ankommt oder vergangene Rückgänge bereits wieder kompensiert sind.

Im Wohlstandsbericht 2021 werden zehn der 30 Teilziele positiv bewertet; im Vorjahr waren es acht. Der kurzfristige Ausblick auf 2021/22 ist dabei nur bei fünf Teilzielen positiv. Im Gegensatz zum Vorjahr sehen wir jedoch zumindest bei zwei der fünf Ziele des „magischen Vielecks“ einen leichten Fortschritt: „Hohe Lebensqualität“ und „Intakte Umwelt“.

Ziele des „magischen Vielecks“ schneiden 2021 unterschiedlich ab
Im Folgenden werden die Ergebnisse der Ziele „Fair verteilter materieller Wohlstand“, „Vollbeschäftigung und gute Arbeit“ sowie „Intakte Umwelt“ kurz vorgestellt. Damit wird je ein Ziel aus den drei zentralen Bereichen des Berichts – Ökonomie, Soziales und Umwelt – vorgesellt.

Der Wohlstand in Österreich ist – auch im internationalen Vergleich – hoch. Beim Ziel „Fair verteilter materieller Wohlstand“ heben sich leichte Fort- und Rückschritte insgesamt auf (Durchschnitt: 0). Dass es nicht besser abschneidet, resultiert insbesondere aus der anhaltend hohen Vermögenskonzentration, dem großen Einkommensunterschied zwischen Frauen und Männern und der Ungleichheit bei der Einkommensverteilung. Die Budgetpolitik wird wesentlich bestimmen, in welche Richtung sich dieser Zielbereich künftig entwickelt.

Das Ziel „Vollbeschäftigung und gute Arbeit“ schneidet mit -0,33 zwar besser ab als im Vorjahr, der Ausblick bleibt aber getrübt. Ein Teil der hohen Krisenarbeitslosigkeit hat sich verfestigt und viele strukturelle Probleme am Arbeitsmarkt sind nach wie vor ungelöst: ältere und gesundheitlich beeinträchtigte Arbeitssuchende, Frauen, Menschen mit Behinderung sowie Niedrigqualifizierte sind immer noch benachteiligt. Inwieweit die Krisenfolgen am Arbeitsmarkt abgefangen werden können, hängt davon ab, wie proaktiv die Arbeits- und Beschäftigungspolitik gegengesteuert.

Für das Ziel „Intakte Umwelt“ ergibt sich im Wohlstandsbericht 2021 mit 0,17 nun ein leicht positiver Durchschnitt. Die Verbesserung ist auf den öffentlichen Verkehr in Österreich zurückzuführen. In der Energie- und Klimapolitik insgesamt besteht hingegen weiterhin großer Handlungsbedarf. Die Folgen der Krise bewirkten zwar kurzfristig eine Reduktion von Energieverbrauch und CO2-Emissionen, für das laufende Jahr ist aber wieder mit deutlichen Steigerungen zu rechnen.

Nachhaltigere Verankerung der Wohlstandsorientierung erforderlich
Der Wohlstandsbericht 2021 wirft einen vertiefenden Blick auf die Institutionen und Prozesse („Governance“) in Österreich und kommt zu dem Ergebnis, dass diese noch stärker auf das übergeordnete Ziel der nachhaltigen Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen auszurichten sind. Konkrete Vorschläge lauten:

1) Um den wirtschaftspolitischen Steuerungsprozess in Österreich zu verbessern, sollte dieser vom Budgetprozess losgelöst und um die soziale und ökologische Dimension erweitert werden. Analog zum Europäischen Semester sollte dieser Prozess jeweils im Frühjahr mit einer „Entwicklungsstrategie“ der Bundesregierung eingeleitet werden.

2) Grundlage für diese Strategie soll ein Expert:innenbericht sein, der die laufende Entwicklung darstellt und einschätzt, die Zielerreichung misst bzw. Abweichungen analysiert und daraus Empfehlungen ableitet.

3) Zur Erstellung des Jahresberichts und von Sondergutachten, aber auch als „Protagonist:innen“ in der öffentlichen Debatte soll ein Beirat für die nachhaltige Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen eingerichtet werden.

Schlussfolgerungen für eine wohlstandsorientierte Wirtschaftspolitik
Um bis 2030 die Ziele einer wohlstandsorientierten Wirtschaftspolitik zu erreichen, sind
aktuell besonders gefordert:

• Eine aktive Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik, die Gleichstellungsaspekte in den Fokus rückt und Hand in Hand mit einer gezielten Armutsbekämpfungspolitik geht. Notwendig sind: Innovative Arbeitszeitmodelle bzw. Formen der Arbeitszeitverkürzung, der Abbau von Langzeitarbeitslosigkeit – etwa durch eine staatliche Jobgarantie –, ein Ausbau sozialer Dienstleistungen, eine Qualifizierungsoffensive sowie eine höhere Existenzsicherung bei Arbeitslosigkeit.

• Öffentliche Investitionen: Investitionen, insbesondere in den Klimaschutz, die Forschung sowie die Daseinsvorsorge tragen zu hohem Wohlstand bei. Dafür braucht es neben der Goldenen Investitionsregel als Fiskalregel-Ausnahme zusätzliche Mittel für Städte und Gemeinden – für ein gutes öffentliches Verkehrsangebot und weitere zentrale Bereiche wie Wohnen, Gesundheit oder Kinderbetreuung, sowie ambitionierte Maßnahmen für die thermische Sanierung von Gebäuden und den Austausch fossiler Heizungssysteme.

• Fokus auf Verteilungsgerechtigkeit: Keinesfalls dürfen die Folgekosten der Krise bei den 99 Prozent der Gesellschaft verbleiben und den Verteilungskonflikt weiter verschärfen. Stattdessen können progressive Abgaben auf Vermögen und Erbschaften, Spitzeneinkommen und Dividenden das demokratiepolitische, soziale und wirtschaftliche Risiko der enormen Vermögenskonzentration entschärfen. Zudem sind die potenziellen Einnahmen in Milliardenhöhe notwendig, um soziale Leistungen nachhaltig zu finanzieren und qualitativ auszubauen.

Der AK-Wohlstandsbericht bildet jährlich eine zentrale Grundlage für die AK-Budgetanalyse.
Das Bundesbudget wird anhand seiner Wohlstandsorientierung beurteilt.

Zum Weiterlesen:
• Schultheiß, Jana/Feigl, Georg/Pirklbauer, Sybille/Wukovitsch, Florian (Koordination, 2021): AK-Wohlstandsbericht 2021.
• Pirklbauer, Sybille/ Schultheiß, Jana/Wukovitsch, Florian (2021): AK-Wohlstandsbericht 2021: Herausforderungen trotz Wirtschaftsaufschwung. A&W-Blog 6.10.2021.
• Eurostat (2021): Sustainable development in the European Union — Monitoring report on progress towards the SDGS in an EU context — 2021 edition.
• Feigl, Georg/Marterbauer, Markus/Schultheiß, Jana/Schweitzer, Tobias (2021): Budget 2022: Unausgewogene Steuerreform, erkennbarer Klimaschwerpunkt, Mittel für Armutsbekämpfung, Pflege und Bildung fehlen.
• Statistik Austria (2020): Wie geht’s Österreich? 2020.

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