In dieser schwierigen Zeit stehen das gemeinsame Europa und die europäischen Werte auf dem Prüfstand.
Die letzten Tage, Wochen und Monate machen eines klar: Viele Menschen setzen große Hoffnungen auf Europa, wenn sie sich aus Kriegsgebieten und Gegenden voller Armut und ohne Zukunft auf den Weg hierher machen. Diese Hoffnungen zu erfüllen ist ein Bedürfnis vieler Menschen hier, das belegen die zahlreichen helfenden Hände an Bahnsteigen, Grenzübergängen und in anderen Einrichtungen.
Um diese Hoffnungen erfüllen zu können und in absehbarer Zeit die Notwendigkeit der Flucht obsolet zu machen, bedarf es einer grundlegenden Neuausrichtung in dem Verständnis, wie unser Zusammenleben funktionieren soll. Dass dieser Politikwandel keine Selbstverständlichkeit ist, zeigt sich an der schwierigen politischen Auseinandersetzung zwischen den EU-Staaten um die Neuausrichtung der Flüchtlingspolitik genauso wie an den Ressentiments, die bei Teilen der europäischen Bevölkerung die Einstellung zu flüchtenden Menschen bestimmen.
Verunsicherung und Angst
Die Austeritätspolitik der vergangenen Jahre hat in Europa ein Klima der Angst geschaffen. Sie hat die Krise verlängert und verschärft. Austerität bedeutet für viele Menschen in Europa steigende Armut, horrende Arbeitslosigkeit eine schrumpfende Wirtschaft und den Abbau von sozialen Sicherungssystemen. Während für große Teile der Bevölkerung die Unsicherheit also zunimmt, sieht es bei der Spitze der Vermögenden anders aus: Hier nimmt der Reichtum stärker als je zuvor zu. Europa wurde in den Jahren der Krise zur Region mit den meisten Milliardärinnen und Milliardären weltweit. Diese Ungleichheit in der Vermögensverteilung ist kein unumstößliches Naturgesetz, sondern das Ergebnis ebenjener fehlgeleiteten Wirtschaftspolitik. Diese Entwicklung ist keine gute Grundlage für eine transnationale Solidarität, die heute dringend nötig wäre.
Klar ist, das Mantra der Alternativlosigkeit, der engen Gürtel und der schlanken Staaten ist im Europa des 21. Jahrhunderts unweigerlich mit dem Mythos der „vollen Boote“ verbunden. Dahinter steckt eine Ideologie, wo das Hemd näher ist als der Rock und wo nicht mehr Menschen mit ihren Bedürfnissen zählen, sondern nackte Zahlen und Kosten die Budgets belasten. Austeritätspolitik sagt, die „Kosten“ müssen reduziert werden – Schicksale von Menschen hin oder her. Zur Not wird auch dauerhafte Armut in europäischen Ländern oder das massenhafte Sterben an den EU-Außengrenzen in Kauf genommen.
Die Perspektive
Gerade in dieser schwierigen Zeit stehen das gemeinsame Europa und die europäischen Werte auf dem Prüfstand: Es gilt heute umso mehr, jene Sicherheit schaffen, in der bereits hier lebende Menschen und unsere künftigen Nachbarinnen und Nachbarn eine Perspektive auf ein gutes Leben haben. Um diese Herausforderungen meistern zu können, braucht es jetzt viel mehr Geld für Schulen, soziale Einrichtungen und dafür, Arbeitsplätze zu schaffen, anstatt die Wirtschaft und das soziale Gefüge noch weiter kaputtzusparen. Nur dann werden wir in Europa gut aus der Krise kommen und Schutzsuchenden eine gute Zukunft bieten können. Für ein weltoffenes und menschenfreundliches Europa als weltweites Vorbild für Lebensqualität und Demokratie.
Klar ist aber auch, dass es finanzieller Unterstützung für die Befriedung und den Wiederaufbau der lokalen Infrastruktur in den Kriegs- und Krisengebieten bedarf, um in absehbarer Zeit Menschen wieder in ihren Herkunftsregionen eine gute Zukunft zu ermöglichen.
All das ist machbar, es hängt vom politischen Willen und der Machtverteilung in den europäischen Institutionen und Nationalstaaten ab. Es wird Zeit, die neoliberale Spardoktrin zu durchbrechen und als gemeinsames Europa voranzugehen. Denn dann kann endlich jene Sicherheit geschaffen werden, nach der sich viele Menschen sehnen: ein gutes Leben in Freiheit – ohne Angst und Not und mit der Perspektive auf eine gute Zukunft für die nachfolgenden Generationen.
Der Kommentar ist auch im Standard erschienen: http://derstandard.at/2000022295144/Von-engen-Guerteln-und-vollen-Booten