Rette sich, wer kann! Das EU-Mercosur-Abkommen vor der Ratifizierung

by Johannes Rendl

Die europäische Industrie will mithilfe der Europäischen Kommission das EU-MERCOSUR-Abkommen durchsetzen, obwohl es Menschen und Umwelt schadet. Von Julia Eder. Zur PDF-Version.

Die Europäische Kommission strebt aktuell die Unterzeichnung eines Assoziierungsabkommens mit den Ländern des Gemeinsamen Marktes des Südens (MERCOSUR) – Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay – an. Dieses Abkommen besteht aus einem Teil zu Handelsfragen und einem Teil zur politischen Zusammenarbeit. Die Europäische Kommission betont gebetsmühlenartig die Vorzüge des Abkommens. Kritische Stimmen halten dem entgegen, dass Umwelt und Landwirtschaft negativ getroffen würden. Es gibt noch mehr über das Abkommen zu sagen, leider aber nichts Gutes.

Der Weg zum Abkommen
Seit der 2001 gestarteten und nie vollendeten Doha-Runde ist die weitere globale Handelsliberalisierung im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO) gebremst. Zwischen den politischen VertreterInnen des globalen Südens und des globalen Nordens kam es seitdem zu keiner Einigung. Die ärmeren Ökonomien kritisierten vor allem den Protektionismus der reichen Länder im Agrarbereich sowie den strengen Schutz geistigen Eigentums im Rahmen von Patentregelungen. Als eine Folge der Pattstellung auf WTO-Ebene begann die EU bilaterale sowie multilaterale Handelsabkommen mit anderen regionalen Blöcken auszuhandeln (z.B. CETA, TTIP, JEFTA, EPAs, etc.).

Die Idee, ein Assoziierungsabkommen mit dem MERCOSUR zu verhandeln, ist allerdings schon älter. Ein erster Anlauf startete 1995 mit der Unterzeichnung eines Rahmenabkommens zwischen EU und MERCOSUR. Man konnte sich aber nicht auf die Zugeständnisse in Handelsfragen einigen, obwohl auf beiden Seiten des Atlantiks neoliberal orientierte Regierungen den Ton angaben. Wichtiger Widerstand kam sowohl von den südamerikanischen Industrieverbänden, von den europäischen Landwirtschaftsverbänden als auch von den Gewerkschaften in mehreren Ländern Südamerikas und Europas. Bis 2004 waren die Verhandlungen weit fortgeschritten. Die Länder des MERCOSUR waren aber mit der protektionistischen EU-Agrarpolitik nicht einverstanden und forderten größere Zugeständnisse ein. Die Verhandlungen wurden mit dem Hintergedanken eingefroren, die Ergebnisse der Doha-Runde abzuwarten. Diese kamen aber nie – 2016 galt sie offiziell als gescheitert. Hinzu kam, dass die Mitte-Links-Regierungen, die in Brasilien mit Lula da Silva (2003), in Argentinien mit Néstor Kirchner (2003), in Uruguay mit Tabaré Vazquez (2005) und in Paraguay mit Fernando Lugo (2008) an die Macht gekommen waren, Freihandel kritisch gegenüberstanden. Die Verhandlungen über das EU-MERCOSUR-Abkommen schliefen ein.

Neuer Anlauf
Erst als die Doha-Runde 2016 als gescheitert erklärt wurde, kam die EU erneut mit einem Angebot auf die MERCOSUR-Staaten zu. Dort hatten sich inzwischen die politischen Kräfteverhältnisse geändert: Argentinien wählte 2015 den neoliberalen Mauricio Macri zum Präsidenten. Im darauffolgenden Jahr wurde die sozialdemokratische Präsidentin Brasiliens, Dilma Rousseff, bei einem Putsch abgesetzt. Der Interimspräsident Michel Temer und der später gewählte Jair Bolsonaro unterstützen eine Handelsöffnung. Im Kontext von Trumps „America First“-Politik und dem immer weiter eskalierenden US-chinesischen Handelskrieg wollte sich die EU als Bollwerk des Freihandels positionieren. Die Verhandlungen wurden erneut aufgenommen und im Juli 2019 abgeschlossen. Seitdem wurden unterschiedliche rechtliche Schritte gesetzt, die für den Ratifizierungsprozess Voraussetzung sind.

Wer will mich?
Die Formel „Autos gegen Soja und Fleisch“ fasst pointiert die zentralen Inhalte des EUMERCOSUR-Abkommens zusammen und zeigt auch auf, welche Interessengruppen das Abkommen vorantreiben.

Aktuell hebt der MERCOSUR hohe Zölle auf die Einfuhr von Industriegütern ein. Das Ziel ist dabei, die eigene Industrieproduktion zu schützen, weil ihre Produkte sonst, beispielsweise gegen die von deutschen Industrieunternehmen, chancenlos wären. Auf diese Weise schützt man auch relativ sichere, gut bezahlte und formell abgesicherte Arbeitsplätze in Südamerika. Die Ratifizierung des EU-MERCOSUR-Abkommens verlangt nun von den südamerikanischen Ländern ihre Einfuhrzölle auf EU-Industrieerzeugnisse in den nächsten 10 bis 15 Jahren vollständig abzubauen (siehe Abbildung 2).

Derzeit gelten noch hohe Zölle: 35 Prozent auf importierte Autos, 14 bis 18 Prozent auf Autoteile, 14 bis 20 Prozent auf Maschinen, bis zu 18 Prozent auf Chemikalien, bis zu 14 Prozent auf Arzneimittel und 35 Prozent auf Kleidung und Schuhe. Der Wegfall dieser Zölle würde sich nicht nur auf die Staatseinnahmen der betroffenen Länder negativ auswirken, sondern auch allein in Argentinien 186.000 Industriearbeitsplätze bedrohen. Dazu kommt, dass das EU-MERCOSUR-Abkommen den Aufbau neuer Industriezweige in den südamerikanischen Ländern erschwert, weil verboten wird sogenannte „junge Industrien“ durch Zölle oder andere Handelsbarrieren zu schützen, bis sie wettbewerbsfähig sind.

Das Abkommen aus Sicht der EU
In der EU sind die wichtigsten treibenden Kräfte die Auto-, die Chemie- und die Pharmaindustrie. Vor allem die deutsche Autoindustrie erhofft sich, ihren Absatzmarkt in Südamerika zu erweitern – sowohl in Bezug auf fertige Autos als auch auf Autoteile. Die großen Chemiekonzerne, z.B. Bayer und BASF, erhoffen sich aus anderen Gründen ein Geschäft: In Südamerika sind Agrargifte erlaubt, die in der EU verboten sind (siehe Abbildung 3). Der Einsatz solcher Pestizide schadet der Landwirtschaft und der ansässigen Bevölkerung, aber er bringt den Konzernen große Gewinne.

Auch die weniger strikten Regelungen im Umgang mit gentechnisch verändertem Saatgut sind aus deren Sicht sehr attraktiv. Pharmakonzerne wiederum rechnen sich gute Chancen aus, den südamerikanischen Markt zu erobern, weil neue Schutzregelungen für geistiges Eigentum die ungeliebte Generika-Produktion in Südamerika trockenlegen würden. Europäische Dienstleistungsunternehmen hingegen haben ihr Augenmerk auf öffentliche Ausschreibungen in südamerikanischen Ländern gelegt. Bei diesen dürften sie zukünftig mitbieten und könnten kleinere lokale Bewerber ausstechen.

In Europa sind alle bedeutenden Industrieverbände (u.a. die österreichische Industriellenvereinigung) für das Abkommen. Zum Teil treten auch (Industrie)Gewerkschaften – insbesondere aus stark exportorientierten Ökonomien (z.B. Deutschland oder Schweden etc.) – nicht explizit gegen das Abkommen auf. Zwar sprechen sie sich für die nachträgliche Ergänzung von Menschen-, Arbeitsrechts- und Umweltklauseln aus. Wird dies umgesetzt, haben sie aber kein Problem mit dem Abkommen. Österreich ist hier eine Ausnahme. Denn in der freihandelskritischen Plattform „Anders handeln“ sind nicht nur NGOs wie attac und Südwind, die Dienstleistungsgewerkschaft vida und die Daseinsgewerkschaft younion, sondern auch die Produktionsgewerkschaft ProGe engagiert. Das erklärte Ziel der Plattform ist, dass Österreich das EU-MERCOSUR-Abkommen nicht unterzeichnet – auch nicht in einer leicht überarbeiteten Fassung. Das ist umso bemerkenswerter, weil auch die österreichische Industrie exportorientiert ist. Dennoch wiegt für die Gewerkschaften schwerer, dass durch dieses Freihandelsabkommen nicht nur die Umwelt, sondern auch die Arbeitsrechte und Sozialstandards in Europa unter Druck kommen könnten – auch in der Industrie.

Mit ihrer ablehnenden Haltung steht die Plattform „Anders handeln“ für die große Mehrheit der EU-Bevölkerung. Bei einer Umfrage in mehreren europäischen Ländern im Jahr 2019 waren 63% für den Stopp des Abkommens. Nur 14% sprachen sich für eine Fortsetzung der Verhandlungen aus und 24% hatten keine Meinung dazu. In Österreich war dabei der Anteil der entschiedenen GegnerInnen des Abkommens am höchsten: 75% waren entschieden gegen das Abkommen, 15% hatten keine Meinung und nur 10% wollten, dass die Verhandlungen fortgeführt werden. Während sich in Frankreich, Österreich, Irland, Belgien und Spanien jeweils mehr als 60% der Befragten für den Stopp des Abkommens aussprachen, lag die Zahl in Deutschland mit 57% am niedrigsten (aber auch das ist noch eine satte Mehrheit). Die Bevölkerung der EU-Staaten hat also eine völlig andere Einschätzung zu dem Abkommen als Großkonzerne aus bestimmten Branchen und die EU-Kommission.

Sichtweisen aus dem MERCOSUR
Natürlich stehen aber nicht nur auf EU-Seite mögliche Gewinner des Abkommens. In den MERCOSUR-Ländern ist vor allem die exportorientierte Agrarindustrie am Abkommen interessiert. Die EU schützt ihren Agrarmarkt stark und kontrolliert die Handelseinfuhren in diesem Bereich streng. Den südamerikanischen Ländern wurde nun angeboten, dass die zollbegünstigten Quoten für Exporte in die EU bei Rindfleisch und Hühnerfleisch je um knapp 50 Prozent erhöht werden. Für pflanzliches Ethanol soll die Steigerung der Quote sogar 637% betragen (siehe Abbildung 5). Auch sojaexportierende Unternehmen hoffen auf gesteigerte Ausfuhren in die EU nach Abschluss des Abkommens.

Kleinbäuerinnen und Kleinbauern im MERCOSUR und deren gewerkschaftliche Organisationen sehen das Abkommen kritischer. Sie befürchten eine weitere Zunahme von Menschen- und Landrechtsverletzungen sowie von Konflikten um Wasser in Zusammenhang mit der Ausdehnung der landwirtschaftlichen Flächen (Waldrodungen, Landnahme etc.). Die Bedrohung ist für Angehörige indigener Völker besonders groß. Zugleich werden aber auch LandarbeiterInnen und kleine landwirtschaftliche Existenzen in Europa unter dem zusätzlichen Konkurrenzdruck leiden.

In den MERCOSUR-Ländern waren lange Zeit sowohl die großen Industrieverbände (v.a. Argentiniens und Brasiliens) als auch die Gewerkschaften gegen das Abkommen. Während die Gewerkschaften nach wie vor skeptisch sind, hat sich in den Industrieverbänden zum Teil ein Meinungswandel vollzogen. In Brasilien schwenkten CNI und FIESP, die beiden großen Vereinigungen von Industrieunternehmen, bereits 2013 auf eine freihandelsfreundliche Position um. Auch in der Industriellen Union Argentiniens ist die vollständige Ablehnung des Abkommens aufgegeben worden. Zum Teil dürfte das auf einen Generationenwechsel in der Organisation zurückgehen, bei dem ältere KollegInnen, die für starke Staatseingriffe in die Wirtschaft waren, durch jüngere mit (neo-)liberaleren Positionen ersetzt wurden. Außerdem gibt es auch im Industriesektor einzelne wettbewerbsfähige Unternehmen, die von einer Öffnung profitieren könnten.

Ein ungleiches Abkommen
Das Abkommen ist problematisch, weil es die Länder des MERCOSUR zum Abbau von Zöllen auf Industriegüter zwingt und das hat umfangreiche Folgen: Langfristig wird die industrielle Wertschöpfung in den Ländern des MERCOSUR sinken. Diese werden sich auf den Anbau bzw. die Herstellung und den anschließenden Export von Rohstoffen und Agrarprodukten spezialisieren (in der Fachsprache „Reprimarisierung“ genannt), was sie im Prozess nachholender Entwicklung zurückwerfen wird. Die Industriegüter aus den MERCOSUR-Ländern werden in vielen Fällen nicht mit den importierten aus den EU-Ländern konkurrieren können. Das Ergebnis ist, dass die südamerikanischen Länder in diesem Bereich wieder in Außenabhängigkeit geraten werden.

In diesem Abkommen spiegelt sich auch das ungleiche Kräfteverhältnis wider: Während die MERCOSUR-Staaten ihre Industriezölle im Zeitraum von zehn Jahren völlig abbauen (müssen), gilt das bei den EU-Agrarzöllen nur für manche Produkte. Genau bei den Produkten aus dem MERCOSUR, die am EU-Markt besonders konkurrenzfähig wären, werden nur die Quoten für zollbegünstigte Einfuhren erhöht, nicht aber alle Zölle abgeschafft. Mit dem Ziel der Erreichung von Nahrungsmittelsouveränität ist ein Schutz des europäischen Agrarmarktes auch durchaus unterstützenswert. Dies gilt allerdings nur, wenn Agrarüberschüsse nicht zu Schleuderpreisen im Rest der Welt verteilt und nicht andere Länder(-gruppen) zum Abbau von Handelsbarrieren genötigt werden, wo es den Wirtschaftseliten der EU gerade genehm ist.

Wendepunkt Corona?
Die Corona-Pandemie bietet einen guten Moment, die Notwendigkeit und die Organisierung von Güteraustausch zu hinterfragen. Beim EU-MERCOSUR-Abkommen soll hauptsächlich der Handel von Gütern gesteigert werden, die beide Seiten ausreichend produzieren (sogenannter „redundanter Handel“). Das ist nicht nur klimapolitisch fragwürdig, weil zusätzliches Transportaufkommen die Umwelt schädigt. Es wirft auch die Frage auf, ob es nicht klüger wäre, wenn beide regionalen Blöcke eine stärker binnenorientierte Entwicklungsstrategie einschlagen, die ausgewogene Wirtschaftsstrukturen schafft. Von der Einfuhr am anderen Ende der Welt hergestellter Güter abhängig zu sein, deutet auf ein strukturelles Ungleichgewicht in der eigenen Wirtschaft hin. Die Umsetzung des EU-MERCOSUR-Abkommens wird dieses weiter verschärfen und ist somit ein Schritt in die falsche Richtung.

Manches deutet darauf hin, dass die EU-Eliten aufgrund der sehr mageren Post-Corona Wachstumsperspektiven des südamerikanischen Marktes ihre Pläne überdacht haben. Die deutsche Kanzlerin Merkel äußerte etwa jüngst, dass sie „erhebliche Zweifel“ am EU-MERCOSUR-Abkommen hat und eine Unterzeichnung aktuell für „kein gutes Signal“ hält. Da sie bisher stets zu den VerfechterInnen des Abkommens zählte, könnte dies auf tiefergehende Veränderungen hindeuten, zum Beispiel auf einen Meinungswandel in relevanten Teilen des deutschen Industriekapitals. Auch die EU-HandelsministerInnen hatten das Abkommen bei ihrem letzten Treffen am 9.11.2020 nicht auf der Agenda, obwohl die deutsche Ratspräsidentschaft zu diesem Zeitpunkt das Abkommen bereits zur Ratifizierung an den Europäischen Rat und an das Europäische Parlament übergeben haben wollte. Das Abkommen ist zwar noch nicht vom Tisch, aber es hat so viel an Dynamik eingebüßt, dass ein baldiger Abschluss aus heutiger Sicht unwahrscheinlich ist. Wir werden sehen, ob sich diese Einschätzung als richtig erweist.

Zum Weiterlesen
• Dessewffy, Éva (2019): EU-Mercosur-Handelsabkommen entspricht nicht dem 21. Jahrhundert
• Eder, Julia/Kaps, Klemens (2020): Kann Protektionismus fortschrittlich sein? Eine wirtschaftshistorische Analyse von protektionistischer Theorie und Praxis. In: Wirtschaft und Gesellschaft 46(2), S. 175-208
• Fritz, Thomas (2020): EU-Mercosur-Abkommen. Risiken für Klimaschutz und Menschenrechte
• Horn, Florian (2020): Von Menschen und Rindern. Anmerkungen zur bevorstehenden EU-Ratspräsidentschaft vor dem Hintergrund des geplanten EU-Mercosur-Handelsabkommens
• Powershift u.a. (2020): EU-MERCOSUR. Voran in die (Klima-)Krise

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