Wie kann es uns gelingen, dass künftige Gesundheitskrisen nicht (wieder) auf dem Rücken weniger ausgetragen werden, sowohl aus gesundheitlicher als auch aus sozialer Sicht? Von Andrea E. Schmidt (Stellvertretende Leiterin der Abteilung Gesundheitsökonomie und -systemanalyse bei Gesundheit Österreich GmbH). Zur PDF-Version.
Viel war von Schutzausrüstung und Intensivbetten während der Covid-19-Pandemie die Rede. Doch die Lehren aus der aktuellen Gesundheits- und Sozialkrise müssen den Blick auf das große Ganze richten.
Negative Spirale aus gesundheitlichen, ökonomischen und sozialen Faktoren
Bereits vor der Krise war bekannt, dass soziale Benachteiligung auch gesundheitliche Risiken verstärkt. Beispielsweise haben Menschen mit niedrigem formalen Bildungsabschluss ein deutlich höheres Risiko, von Übergewicht oder Adipositas betroffen zu sein als Menschen mit Hochschulabschluss. Ähnlich ist das Verhältnis beim täglichen Rauchen. Zudem sind Personen, die bereits vor der Pandemie überdurchschnittlich von chronischer Krankheit und sozialer Ausgrenzung betroffen waren, als besonders vulnerable Gruppen in Bezug auf gesundheitliche Risiken einzustufen. Viele dieser Menschen sind derzeit auch von den negativen ökonomischen Auswirkungen der Wirtschafts- und Gesundheitskrise betroffen. Nicht ohne Grund wird die aktuelle Krise daher auch als ‚Syndemie‘ bezeichnet. Darunter ist das Zusammenspiel und die wechselseitige Verstärkung von negativen gesundheitlichen Effekten in einer Pandemie zu verstehen. Dies gilt etwa für jene, die von chronischen Vorerkrankungen betroffen sind, und sich zudem in prekären Arbeits- oder Wohnverhältnissen befinden, wie etwa die englische Forscherin Clare Bambra in einer Studie zeigt. Die Häufung von Infektionsfällen mit dem Corona-Virus in deutschen Schlachthöfen oder in österreichischen Postverteilzentren führte uns einmal mehr vor Augen, dass prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse von Gesundheitsrisiken nicht zu trennen sind. Dies konnte empirisch etwa in England in einem Bericht des Forschers Sir Michael Marmot sehr deutlich gezeigt werden. Zudem sind zahlreiche Personen, die sich mit dem Corona-Virus infizierten, später von der Folgeerkrankung „Long Covid“ betroffen, was wiederum die Arbeitsfähigkeit mittel- bis langfristig einschränkt und die beschriebene negative Abwärtsspirale weiter verstärken könnte.
Unerfüllter Behandlungsbedarf stieg in der Krise dramatisch an: Das Ganze im Blick behalten
Wichtig wäre jetzt, den Blick nicht mehr nur auf Infektionskurven und Inzidenzzahlen zu richten, sondern das Gesundheitssystem als Ganzes im Blick zu behalten. Menschen mit bestehenden Vorerkrankungen oder schlechtem Gesundheitszustand waren während der gesamten Pandemie auch stärker von Einschränkungen im Zugang zur regulären Gesundheitsversorgung betroffen: Ordinationen waren zu Beginn der Pandemie geschlossen, der lang ersehnte OP-Termin wurde abgesagt, auch Angst vor möglicher Ansteckung kam hinzu. Unerfüllter medizinischer Behandlungsbedarf stieg drastisch an. Laut Auswertungen der AKCOVID-Studie der Gesundheit Österreich GmbH, des Europäischen Zentrums für Wohlfahrtspolitik und Sozialforschung und des Instituts für Höhere Studien blieb im Juni 2020 bei jeder fünften Person im erwerbsfähigen Alter, die in Österreich einen Behandlungsbedarf hatte, dieser unerfüllt, zum Großteil aus Gründen, die auf die Pandemie zurückzuführen waren. Zudem nahmen psychische Belastungen, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen, deutlich zu, wie eine Erhebung der Donau Universität Krems zeigt. Es ist zu befürchten, dass auch diese indirekten Folgen verwundbare Gruppen stärker betreffen.
Zielgerichtete Primärversorgung entlastet Krankenhäuser und fängt chronisch Kranke auf
Während zu Beginn und im Laufe der Pandemie vor allem der Ruf nach einem Beibehalten von Krankenhauskapazitäten laut wurde, wurde der niedergelassene Bereich sowie der Bereich der Primärversorgung vielfach ausgeblendet. Doch besonders für Personen mit chronischen Krankheiten ist der lang bekannte Hausarzt, das Primärversorgungszentrum oder die bekannte Fachärztin oftmals ein wichtiger Kontaktpunkt im System. In Zeiten der Pandemie lief in Österreich das Krisenmanagement größtenteils als strategisches Match zwischen Bund und Ländern ab. Die Sozialversicherung – der dritte große Finanzierungspartner im österreichischen System und zuständig für die niedergelassene Versorgung – kam dabei deutlich weniger als Player ins Spiel. Hingegen zeigte sich international wie etwa in den Niederlanden, Belgien oder Slowenien, dass eine gut funktionierende Primärversorgung in Krisenzeiten – und darüber hinaus – einen wichtigen Puffer darstellen kann: Patient*innen werden niederschwellig versorgt und landen nur bei Bedarf in einer Spitalsambulanz. So konnten sich Krankenhäuser in diesen Ländern auf schwerere Fälle konzentrieren – sowohl mit COVID 19 als auch ohne. Mit einer starken Primärversorgung bzw. einer gut funktionierenden öffentlichen niedergelassenen Versorgung besteht eine gute Basis, damit Patient*innen mit chronischen Krankheiten auch in Krisenzeiten gut weiter versorgt werden. Auch sind die Präventionsausgaben, die insbesondere chronisch kranken Menschen zugutekommen würden, in Österreich konstant niedrig und das, obwohl Österreich eines der europäischen Länder mit den höchsten Gesundheitsausgaben ist.
Wahlärztliche Versorgung steigt, kassenärztliche Versorgung stagniert
Obwohl in Österreich mehr als 99 Prozent der Bevölkerung durch die Sozialversicherung abgedeckt sind, ist in den letzten Jahren in der niedergelassenen Versorgung ein Trend hin zu mehr wahlärztlicher bei gleichzeitig stagnierender kassenärztlicher Versorgung zu beobachten. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich auch, dass private Kostenbeiträge in Österreichs Gesundheitssystem – entgegen der landläufigen Meinung – im Vergleich mit anderen Ländern hoch sind, sie betrugen im Jahr 2017 immerhin fast ein Fünftel der gesamten laufenden Ausgaben (EU-Durchschnitt: 15,8%). Private Kostenbeiträge etwa für den Besuch von Fachärzt*innen ohne Kassenvertrag stellen jedoch insbesondere für weniger privilegierte Patient*innen eine Belastung dar. Die Krise verschärft die Situation insofern, als besser gebildete bzw. besser vernetzte Personen tendenziell eher in der Lage sind, Zugangsbarrieren auch in der Krise zu umgehen.
Was muss passieren?
Die folgenden Maßnahmen erscheinen aufgrund der aktuellen Situation und vor dem Hintergrund der Erfahrungen in der Covid-19-Pandemie besonders drängend:
- Die Pandemie hat uns mehr als deutlich vor Augen geführt, dass Public-Health kein Randthema ist, sondern einen gesamtgesellschaftlichen Stellenwert verdient. Gesundheitliche Chancengerechtigkeit kann am besten durch politische Maßnahmen gefördert werden, die den Ansatz verfolgen, die vielen Nachteile für verwundbare Gruppen von der Wiege bis zur Bahre auszugleichen. Dies gelingt einerseits über Public-Health-Programme, die zwar universell, d.h. für die gesamte Bevölkerung, konzipiert werden, aber sozialökonomisch benachteiligten Gruppen stärker zugutekommen; und andererseits auch über Zwei-Generationenprogramme. Initiativen wie die Frühen-Hilfe (www.fruehehilfen.at) brauchen daher weiterhin kontinuierlichen Ausbau und konstante Unterstützung durch öffentliche Mittel. Frühe-Hilfen- Netzwerke dienen der bedarfsgerechten Unterstützung von Familien in belastenden Situationen in der Lebensphase der frühen Kindheit (Schwangerschaft und erste Lebensjahre eines Kindes).
- Gerade Menschen in (klinisch bzw. sozial) vulnerablen Gruppen, die Schwierigkeiten hatten, in einer Krisensituation informiert zu bleiben oder umgekehrt aus Angst vor Ansteckung möglicherweise notwendige medizinische Leistungen nicht in Anspruch nahmen, hätten durch die schon bekannte Hausärzt*in ermutigt werden können, weiterhin medizinische Regelversorgung in Anspruch zu nehmen. Es braucht zudem dringend einen weiteren Ausbau von Primärversorgungseinheiten – die über klassische Hausarztpraxen hinausgehen – und ein Bewusstsein für die wichtige Rolle der Primärversorgung insgesamt.
- Angesichts der stagnierenden Entwicklung im letzten Jahrzehnt ist eine Stärkung der öffentlichen niedergelassenen Versorgung dringend notwendig, idealerweise begleitet von einer Bündelung von Finanzierungsströmen im österreichischen Gesundheitswesen. Hinzu kommt budgetärer Druck: In Folge der europäischen Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 konnte sehr gut beobachtet werden, wie sinkende staatliche Einnahmen aufgrund hoher Arbeitslosigkeit Einschränkungen im Gesundheits- und Sozialbereich nach sich zogen. Dem ist – in Österreich und ganz Europa – vor dem Hintergrund der hier präsentierten Analyse entgegenzutreten um psychische, gesundheitliche und ökonomische Folgekosten vor allem für weniger privilegierte Gruppen zu verhindern.
Zum Weiterlesen:
• Bambra, C./ Riordan, R./ Ford, J., et al (2020): The COVID-19 pandemic and health inequalities, J Epidemiol Community Health, 74, S. 964 – 968.
• Donau Universität Krems (2021): 16 Prozent der SchülerInnen haben suizidale Gedanken Alarmierende Studienergebnisse zur psychischen Gesundheit von SchülerInnen: Mehr als die Hälfte leiden unter depressiven Symptomen. Pressemeldung vom 2.3.2021, verfügbar unter: https://www.donau-uni.ac.at/de/aktuelles/news/2021/16-prozent-der-schuelerinnen-haben-suizidale-gedanken.html
• European Observatory on Health Systems and Policies (2020): COVID-19 responses in countries with social health insurance: The role of primary care, Webinar 1. Dezember 2020, verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?-v=dJcKHaxLQwY
• Haas, S./ Braunegger-Kallinger, G. (2021): COVID-19 als Syndemie: Der Einfluss der sozioökonomischen Determinanten auf die Gesundheit, Kurswechsel.
• Karanikolos, M./ Mladovsky, P./ Cylus, J./ Thomson, S./ Basu, S./ Stuckler, D./ Mackenbach, J.P./ McKee, M. (2013): Financial crisis, austerity, and health in Europe, The Lancet, 381(9874), S. 1323 – 1331.
• Marmot, M./ Allen, K./ Goldblatt, P./ Herd, E. and Morrison, J. (2020): Build Back Fairer: The COVID-19 Marmot Review. London: Institute for Health Equity.
• OECD/ WHO (2019): Österreich: Länderprofil Gesundheit 2019. Brüssel, verfügbar unter: https://www.oecd.org/publications/osterreich-landerprofil-gesundheit-2019-616bb134-de.htm
• Steiber, N. (2021): AKCOVID Panel Survey [SUF edition]. Ausrtain Social Science Data Archive (AUSSDA). Details zur AKCOVD-Studie und Publikationen: https://inprogress.ihs.ac.at/akcovid/
• Schmidt, A. E. et al. (2021): Eingeschränkte Gesundheitsversorgung in Zeiten der Pandemie. Verfügbar unter: https://inprogress.ihs.ac.at/eingeschraenkte-gesundheitsversorgung-in-zeiten-der-pandemie/
• Schmidt, A.E./ Merkur, S. et al. (2021): Tackling the COVID-19 pandemic in social health insurance countries during the first wave (working paper).
• Singer, M. (2009): Introduction to Syndemics: A Critical Systems Approach to Public and Community Health. San Francisco: John Wiley & Sons.
• Sudre, C.H./ Murray, B./ Varsavsky, T. et al. (2021): Attributes and predictors of long COVID, Nat Med, 27, S. 626 – 631.
• WHO Regional Office for Europe (2016): Strengthening people-centred health systems in the WHO European Region: framework for action on integrated health services delivery, Kopenhagen, 12.-15. September 2016, verfügbar unter: https://www.euro.who.int/__data/assets/pdf_file/0004/315787/66wd15e_FFA_IHSD_160535.pdf
• WHO (2021): New WHO/Europe information series highlights the transformation of primary health care during COVID-19, verfügbar unter: https://www.euro.who.int/en/health-topics/Health-systems/primary-health-care/news/news/2021/6/new-whoeurope-information-series-highlights-the-transformation-of-primary-health-care-during-covid-19