Gewalt an Frauen beginnt nicht mit dem Mord

by Johannes Rendl

Der gefährlichste Ort für viele Frauen sind die eigenen vier Wände. Häusliche Gewalt richtet sich vor allem gegen Frauen. Von Nora Waldhör. Zur PDF-Version.

Nicht dunkle Straßen oder Parks sind die gefährlichsten Orte für Frauen, für viele sind es die eigenen vier Wände. Gewalt, insbesondere häusliche Gewalt, richtet sich vor allem gegen Frauen, um bestehende Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu sichern. Es geht um ein gesamtgesellschaftliches Problem.

Österreich – Land der Frauenmorde
In den letzten zwei Jahren wurden durchschnittlich mehr als drei Frauen pro Monat durch männliche Gewalt ermordet. Blickt man auf die letzten fünf Jahre hat sich die Zahl sogar mehr als verdoppelt: von 19 im Jahr 2014 auf 39 Mordopfer 2019. In knapp 80 Prozent dieser Mordfälle bestand ein familiäres Verhältnis oder eine partnerschaftliche Beziehung zwischen dem Täter und dem Mordopfer. Im laufenden Jahr 2020 wurden bis November bereits 20 Frauen in Österreich ermordet, 22 weitere versuchte Morde konnten verhindert werden. Im Vergleich mit anderen Mitgliedsstaaten der EU nimmt Österreich 2018 hinsichtlich vorsätzlicher Tötungen und Sexualstraftaten an Frauen den sechstletzten Platz ein. Österreich gehört somit zu den Schlusslichtern innerhalb der EU. Laut einer Befragung der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte ist jede zweite Frau in der EU ab ihrem 15. Lebensjahr von sexueller Belästigung betroffen. Jede dritte Frau erfährt körperliche und/oder sexuelle Gewalt und jede fünfte Frau ist von Stalking betroffen.

Gewalt beginnt nicht mit dem Mord
Im Abschlussdokument der Vierten UN-Weltfrauenkonferenz in Peking 1995 wurde Gewalt an Frauen als „jede Handlung geschlechtsbezogener Gewalt, die der Frau körperlichen, sexuellen oder psychischen Schaden oder Leid zufügt oder zufügen kann, einschließlich der Androhung derartiger Handlungen, der Nötigung oder der willkürlichen Freiheitsberaubung in der Öffentlichkeit oder im Privatleben“ definiert. Dieser Definition liegt ein sehr breites Verständnis von Gewalt zu Grunde und sie zeigt, dass Gewalt viele verschiedene Formen annehmen kann. Häufig wird dabei zwischen physischer, psychischer, sexualisierter, ökonomischer und struktureller Gewalt unterschieden. In vielen Fällen erleben Betroffene mehrere Formen der Gewalt gleichzeitig, eine eindeutige Trennung ist daher oft nicht möglich. Doch egal von welcher Form der Gewalt eine Frau betroffen ist, die Ursachen dafür wurzeln tief in der ungleichen Geschlechterordnung unserer Gesellschaft.

Das wichtigste Rechtsmittel der EU im Kampf gegen Gewalt an Frauen und Mädchen ist die Istanbul-Konvention. Österreich hat sie im Jahr 2013 ratifiziert, bevor sie 2014 in Kraft trat. Sie hält fest, dass „Gewalt gegen Frauen der Ausdruck historisch gewachsener ungleicher Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen ist, die zur Beherrschung und Diskriminierung der Frau durch den Mann und zur Verhinderung der vollständigen Gleichstellung der Frau geführt haben.“

Unser Bild von Männlichkeit
Einerseits führen ungleiche Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu struktureller Benachteiligung. Deutlich schlechtere Bezahlung und niedrigere Pensionen bringen Frauen in eine wirtschaftliche Abhängigkeit, die sie auch verwundbarer für Gewalt macht. Andererseits verfestigt sich die gesetzlich grundgelegte übergeordnete Stellung des Mannes, u.a. als Familienernährer und Familienoberhaupt, in heutigen Vorstellungen über Männlichkeit und Männlichkeitsbildern sowie männlichen Kontroll- und Besitzansprüchen. Diese Umstände bestimmen die Vorstellungen von Männlichkeit in unserer Gesellschaft. Die oft vorhandenen (toxischen) Männlichkeitsbilder lassen es in vielen Fällen nicht zu, dass Männer Ängste, Sorgen, Probleme oder allgemein Emotionen zeigen, da dies oft als Schwäche verstanden wird.

Wie kommt es zu Gewalt?
Neben emotionalen oder psychischen Extremsituationen wie Trennungen, Problemen mit Suchterkrankungen oder Schulden, die zu Gewalt führen, sind häufig Konflikte die das Alltagsleben betreffen Auslöser für Gewalt, z.B. der Anspruch des Täters auf Dominanz, Eifersucht, Besitzansprüche des Mannes, das Bedürfnis nach Macht und Kontrolle verbunden mit der „Bestrafung“ der Frau, sexuelle Ansprüche. Maria Rösslhumer, Geschäftsführerin des Vereins Autonome Österreichische Frauenhäuser, bestätigt in einem Interview, dass obwohl es meist zahlreiche Ausreden oder Entschuldigungen wie Alkohol oder finanzielle Sorgen gibt, Gewalt nicht aus Versehen passiert. Vielmehr wird sie bewusst eingesetzt, um Macht zu demonstrieren und um eine andere Person zu kontrollieren. Macht- bzw. Besitzansprüche sowie toxische Männlichkeit sind jedoch nicht angeboren, sie werden anerzogen und nachgeahmt. Sie repräsentieren bestehende Wertvorstellungen und Umgangsformen. Gewalt an Frauen beginnt auch nicht erst mit einer Ohrfeige oder einem Mord, sie beginnt mit einer frauenverachtenden Haltung, bspw. mit Aussagen wie “Frauen gehören in die Küche” oder “Ich bin doch kein Mädchen”, einem objektivierenden oder sexualisierten Frauenbild, sowie der Akzeptanz und Verharmlosung von Gewalt an Frauen.

Krisen verstärken Gewalt an Frauen zusätzlich
Gesellschaftliche Krisen wie bspw. Wirtschaftskrisen verstärken Gewalt an Frauen zusätzlich. So schlugen Frauenhäuser und Gewaltschutzeinrichtungen bereits vor und während des ersten Lockdowns aufgrund der Corona-Pandemie Alarm. Zurecht, denn die Zahlen von häuslicher Gewalt an Frauen und Kinder sind während des ersten Lockdowns gestiegen. In einer Online-Studie befragte die TU München rund 3.800 Frauen aller Altersgruppen in Deutschland zu ihren Erfahrungen. Dabei gaben drei Prozent der befragten Frauen an, dass sie während der strengen Kontaktbeschränkungen zu Hause von körperlicher Gewalt betroffen waren. Befanden sich die Frauen und Kinder in Quarantäne oder hatten die Haushalte finanzielle Sorgen, so lagen die Zahlen deutlich höher. Obwohl es für Österreich keine vergleichbare Studie gibt, gehen ExpertInnen davon aus, dass die Zahlen in Österreich ähnlich sind. Denn auch hier vermeldeten Gewaltschutzeinrichtungen, Frauenhäuser oder die anonyme Beratungsstelle für Jugendliche „Rat auf Draht“ über einen Anstieg der Anrufe. Diese Organisationen waren jedoch bereits vor der Krise massiv unterfinanziert, Forderungen nach einer Ausfinanzierung bestehender Gewaltschutz- und Präventionsstrukturen bleiben auch unter Schwarz-Grün unberücksichtigt. Außerdem konnten viele Frauen das aufgrund der Corona-Pandemie eingeschränkte Angebot dieser Organisationen nicht wahrnehmen, da sich die gewalttätigen Männer mit den betroffenen Frauen in Selbstisolation befanden und teilweise aufgrund fehlender Privatsphäre nicht einmal ein Anruf in einem Frauenhaus oder einer Gewaltschutzeinrichtung möglich war.

Täter-Opfer-Umkehr im öffentlichen Diskurs
Bei der Prävention von Gewalt an Frauen kommt den Medien eine wichtige Rolle zu. Einerseits zeigen Medien das Ausmaß von Gewalt an Frauen auf, andererseits stellen sie auch ein Bewusstsein in der Gesellschaft für Gewalt an Frauen her. Eine differenzierte und sensible Berichterstattung, die die strukturelle Verankerung von Gewalt an Frauen thematisiert und nicht toleriert, ist also ein wesentliches Mittel zur Prävention von Gewalt an Frauen. Die Realität sieht jedoch oft anders aus: Die öffentliche Berichterstattung verharmlost Gewalt an Frauen in vielen Fällen, indem häusliche Gewalt oder Frauenmorde als “Beziehungstaten” abgetan werden. Auch werden Täter geschützt, da nicht die toxische Männlichkeit oder das aggressive Verhalten des Täters thematisiert oder kritisiert wird, sondern der Fokus auf Rechtfertigungen der Tat gelegt wird und es häufig zu einer Täter-Opfer-Umkehr kommt. Ein Beispiel dafür ist etwa die Rechtfertigung, dass der Rock einer von sexueller Gewalt betroffenen Frau zu kurz war oder ihre Kleidung allgemein zu aufreizend war und sexuelle Übergriffe provoziert habe. Der Täter wird geschützt, da nicht seine toxische Männlichkeit das Problem ist, sondern das Verhalten der Frau, denn sie könnte sich auch anders kleiden. Das trägt dazu bei, dass Gewalt an Frauen in unserer Gesellschaft akzeptiert wird bzw. dass davon ausgegangen wird, dass die betroffene Frau selbst schuld ist. Im Eurobarometer 2016 stimmte ein Viertel der befragten ÖsterreicherInnen der Aussage zu, dass von Gewalt betroffene Frauen diese selbst provoziert haben (“Violence against women is often provoked by the victim“).

Um Gewalt an Frauen zu verhindern, braucht es viel mehr Bewusstseinsarbeit und Sensibilisierung. Schon im Kindesalter müssen Mädchen lernen, dass sie gleichwertig sind wie Buben und dass sie sich wehren können. Buben müssen lernen, wie sie mit emotionalen Extrem- oder Stresssituationen umgehen können, ohne dabei gewalttätig zu werden. Zudem gilt es vorhandene und gelebte Bilder von Männlichkeit zu reflektieren, damit diese nicht weiter reproduziert werden. Dafür braucht es eine sensible Berichterstattung in den Medien, ohne Verharmlosungen von Gewalt oder Täter-Opfer-Umkehr. Auch Behörden müssen ausreichend sensibilisiert sein, damit sie Gefahren richtig beurteilen und einschätzen können. Anzeigen müssen auch wirklich zum Schutz der Frau führen. Gleichzeitig braucht es eine Ausfinanzierung bestehender Gewaltschutz- und Präventionsstrukturen. Ein Platz in einem Frauenhaus muss garantiert sein, zu jeder Zeit und in jedem Bundesland. Denn neben der Bewusstseinsarbeit in der Gesellschaft ist ein niederschwelliger Zugang zu Hilfeleistungen wesentlich. Gewalt an Frauen muss ernst genommen werden, häusliche Gewalt und Frauenmorde dürfen nicht weiter als „Beziehungsstreite“ abgetan werden. Wir müssen uns endlich eingestehen, dass wir in Österreich ein gesellschaftliches Problem mit männlicher Gewalt gegen Frauen haben. Dieses kann und muss gelöst werden, dafür ist politischer Wille und die Mithilfe von uns allen notwendig.

Weitere hilfreiche Kontakte bei häuslicher Gewalt:

 

Zum Weiterlesen
• Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (2014): Gewalt gegen Frauen: eine EU-weite Erhebung. Ergebnisse auf einen Blick
• Council of Europe (2011): Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt
• European Commission (2016): Special Eurobarometer 449. Gender Based Violence
• Frauen*volksbegehren 2.0 (o.J.): Gewalt an Frauen – Ein gesellschaftliches Problem
• gewaltinfo.at (2020): Fachwissen. Formen von Gewalt
• TU München (2020): Häusliche Gewalt während der Corona-Pandemie. Erste große Studie zu Erfahrungen von Frauen und Kindern in Deutschland
• UN Women Deutschland (1995): Bericht der Vierten Weltfrauenkonferenz. Kapitel IV: Strategische Ziele und Maßnahmen
• Verein Autonome Österreichische Frauenhäuser (2014): Gewaltfrei leben. Verantwortungsvolle Berichterstattung für ein gewaltfreies Leben

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