Die globale Gesundheitspolitik leidet unter neoliberalen Sparmaßnahmen und gerät zusehends in Abhängigkeit privater GeldgeberInnen. Von Nadja Meisterhans. Zur PDF-Version.
Die Welt ist infiziert und befindet sich im politischen Ausnahmezustand. Am 30.1. dieses Jahres hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) angesichts der rasanten Ausbreitung des Coronavirus den internationalen Gesundheitsnotstand ausgerufen. Derzeit erleben wir, wie demokratische Regierungen drastische Maßnahmen ergreifen, die insbesondere mit der Einschränkung von politischen Grundfreiheiten und dem öffentlichen Leben einhergehen. So auch in Österreich. Bisher ist eine Mehrheit in der Bevölkerung mit dem Krisenmanagement der Regierung zufrieden. Doch ist sie das zurecht? Ein anderes Bild ergibt sich, wenn man die strukturellen Ursachen der Corona-Pandemie betrachtet.
Corona und das Versagen der internationalen Staatengemeinschaft
Corona ist keine Naturkatastrophe. Vielmehr, so die These des Beitrags, ist die derzeitige Krise menschengemacht. Mehr noch: Corona ist Ausdruck eines eklatanten politischen Versagens – sowohl auf der nationalen, auf der europäischen wie auch globalen Ebene. Die Corona-Krise verdeutlicht auf drastische Weise, dass Krankheiten nicht vor Staatsgrenzen halt machen, sondern eine globale Dimension haben. Bereits im Anschluss an die Ebola-Krise, die nicht zufällig von 2014-2016 in den drei ärmsten Ländern Afrikas wütete, zeigte sich, dass existierenden Strukturen zur Bekämpfung globaler Gesundheitskrisen große Defizite aufweisen und eklatante Schwächen in der internationalen Zusammenarbeit bestehen. Das Ebola-Virus wurde lange ignoriert, so lange es nur in Afrika grassierte. Ähnliches lässt sich über Corona sagen. Auch hier hatte die internationale Gemeinschaft Corona viel zulange für ein Problem Chinas gehalten. Dies hatte zur Folge, dass entsprechende Schutzmaßnahmen, wie sie bereits im Rahmen der „International Health Regulations“ im Anschluss an die SARS-Epidemie im Jahr 2005 von der WHO verabschiedet wurden, nicht greifen konnten. Die einzelnen Regierungen versäumten zudem die jeweiligen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie untereinander zu koordinieren. Eine international koordinierte Gesundheitsstrategie liegt bis heute nicht vor. Im Gegenteil: Bereits auf der EU-Ebene scheitert ein solidarisches Vorgehen, wie die derzeitige Ablehnung der Eurobonds insbesondere von Österreich, Deutschland und den Niederlanden zeigt. Hinzu kommt, dass die italienische Regierung mit Beginn der Coronakrise die EU aufrief, das EU-Katastrophenschutzverfahren in Gang zu setzen. Dies hätte der EU-Kommission ein Mandat verliehen, die Krise zentral zu koordinieren. Doch eine Reaktion blieb aus. Ganz zu schweigen von den Flüchtlingen auf den griechischen Inseln, die Corona völlig schutzlos in Massenlagern ausgeliefert sind. Trotz der akuten humanitären Krise, die sich dort abspielt, weigert sich Österreich unter der Regie Sebastian Kurz, selbst Kinder zu retten.
Die Wurzeln der Gesundheitskrise
Dass demokratische Regierungen nun auf eine kollektive Quarantäne setzen und dabei auf eine seit dem Ende des zweiten Weltkriegs noch nie dagewesene Einschränkung von bürgerlichen Grundfreiheiten vornehmen, erscheint derzeit alternativlos. Nun sitzen wir alle im Lockdown und die wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen vor allem aber politischen Folgen der Politik des Ausnahmezustands und der Notstandsgesetzgebung sind noch gar nicht absehbar. Doch die derzeitige Gesundheitskrise hat tiefliegende Wurzeln: Weltweit wird das Gesundheitswesen durch neoliberale Politik ökonomisiert, privatisiert und entsolidarisiert. Insbesondere die im Anschluss an Schuldenkrisen und die globale Finanzkrise verordneten Austeritätspolitiken haben dazu geführt, dass Staaten (sowohl im Süden wie auch im Norden) kaum in die soziale Infrastruktur investieren (können). Indem neoliberale Politik-Modelle das Sozialstaatsprinzip und das der steuerfinanzierten Umverteilung aberkennen, wird eine nachhaltige insbesondere auf die Stärkung strukturell Benachteiligter bezogene Gesundheitsagenda konterkariert. Und auch in Österreich rächt sich nun der Pflegenotstand, der ÄrztInnenmangel, der Umstand, dass zu wenig Schutzkleidung in Krankenhäusern, aber auch Pflegeheimen vorhanden ist. Die Austeritätspolitiken der letzten Jahrzehnte haben also auch in Europa in eine Situation geführt, in welcher ÄrztInnen angesichts mangelnder Personal- und Materialkapazitäten im schlimmsten Falle entscheiden müssen, wer leben darf und wer sterben muss. Die dramatischen Zustände in Italien sind hierfür geradezu symptomatisch. Dabei hätte man von Ebola lernen können. Im Jahr 2015 fand in der Generalversammlung wie auch im Executive Board Meeting der WHO anlässlich der Ebola-Krise eine entscheidende Debatte statt. Schon damals zeigte sich, dass mangelhafte nationale Gesundheitssysteme, nicht nur bei akuten Seuchen, katastrophale Auswirkungen haben. Gesundheit mehr ist als die Abwesenheit von Krankheit und hängt im entscheidenden Maße davon ab, wie es gelingt, soziale Teilhabe zu organisieren und sozio-ökonomisch bedinge Ungleichheiten abzufedern.
Die sozialen und politischen Determinanten von Gesundheit
Der derzeitige Gesundheitsdiskurs fokussiert sehr stark auf biomedizinische Parameter. D.h. wir erleben, dass die Welt auf einen Impfstoff und entsprechende Medikamente und technologische Lösungen setzt. Problematisch daran ist jedoch, dass so die strukturellen Ursachen, die Gesundheitskrisen – nicht nur im Fall von Pandemien – bedingen aus dem Blickfeld geraten. Die WHO spricht in diesem Zusammenhang von den sozialen Determinanten von Gesundheit. Angesprochen sind hier die Lebensbedingungen von Menschen und die Frage, wer überhaupt Zugang zur Gesundheitsversorgung hat. Was den Zusammenhang zwischen den Lebensbedingungen und Corona betrifft, steht die Forschung noch am Anfang. Globale Gesundheitsfragen stehen in einem engen Zusammenhang mit zahlreichen Politikfeldern, wie Entwicklung, Sicherheit, Handel, Wirtschaft, Menschenrechte, Landwirtschaft, Forschung, Beschäftigung, Bildung, Migration sowie mit humanitärer Hilfe. Millionen von Menschen sind aufgrund von Armut, politischer und sozialer Diskriminierung, Krieg, unfairen Wirtschafts- und Handelsstrukturen und prekärer Staatlichkeit von jeglicher Gesundheitsversorgung ausgeschlossen. Entscheidend ist, dass insbesondere Armut fatale Auswirkungen auf den Gesundheitsstatus hat und der schlechte Gesundheitszustand wiederum die Armut vergrößert, indem er Menschen arbeitsunfähig macht und sie davon abhält für eine Lebensgrundlage zu sorgen. Wie drastisch sich Armut auswirkt, zeigt ein Blick auf die durchschnittliche Lebenserwartung in armen und reichen Ländern: Sie kann sich bis zu 30 Jahre unterscheiden.
Gesundheit ist ein Menschenrecht
Gesundheit ist jedoch ein Menschenrecht und ein öffentliches Gut, das kollektives Handeln erfordert. Doch obwohl das Menschenrecht auf Gesundheit ein Grundrecht ist, wie es auch in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte skizziert und später im Internationalen Pakt über die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte besiegelt wurde, haben Regierungen auf der ganzen Welt versäumt, nachhaltige und insbesondere menschenrechtsbasierte Strukturpolitiken nicht nur im Bereich Gesundheit zu etablieren. Die bestehenden Global Governance-Strukturen (also Politiken jenseits des Nationalstaat, die auf der überstaatlichen Ebene im Rahmen von internationalen Organisationen wie die Weltbank koordiniert werden) waren in der Vergangenheit gerade nicht in der Lage, multiple Krisen (Gesundheits-, Ernährung,- Umweltkrisen) im globalen Maßstab zu verhindern. Stattdessen haben sie im Globalen Süden – denkt man etwa an die auf Liberalisierung und Deregulierung ausgerichteten Strukturpolitiken des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Welthandelsorganisation (WTO) – häufig zu ihnen beitragen. Mehr noch: Es rächen sich nun die weltweiten neoliberalen Sparprogramme, durch die auch gut funktionierende Gesundheitssysteme in eine prekäre Lage gebracht wurden, so dass bei globalen Krisen nicht angemessen reagiert werden kann. Dazu kommt, dass ein großer Teil der globalen Entwicklungs- und Gesundheitspolitik mittlerweile durch private Stiftungen und Initiativen in Form von philanthropischen Großprojekten und Private Public Partnerships abgewickelt wird. Ausschlaggebend für diese Entwicklung ist nicht nur, dass internationale Organisationen wie die UN und ihre Sonderorganisationen im Zuge ausbleibender Erfolge z.B. im Bereich der Armutsbekämpfung in Misskredit geraten sind, sondern ebenso ein genereller Trend im Rahmen neoliberaler Regierungstechniken. Und dieser Trend ist, dass Politik jenseits des Staates und jenseits von internationalen Institutionen im Rahmen von globalen Partnerschaften mit der Privatwirtschaft organisiert wird.
Bill Gates und die Krise der WHO
Auch die WHO ist chronisch unterfinanziert und so in Abhängigkeit von privaten GeldgeberInnen geraten. Nur 20% des jährlichen Budgets stammen aus regulären Mitgliedsbeiträgen. 80% sind dagegen Zuschüsse und zweckgebundene Mittel, die einzelne Länder, große private Stiftungen, Unternehmen oder finanzstarke NGOs beisteuern und die nur für bestimmte Projekte zur Verfügung stehen. Die WHO kann somit über die Verwendung ihrer Mittel nur eingeschränkt entscheiden. Das führt zum Kontrollverlust und einer problematischen Konkurrenz zwischen den verschiedenen Programmen der WHO um die Gunst der GeldgeberInnen zu Lasten von menschenrechtsbasierten und nachhaltigen Strukturpolitiken auch auf der nationalen Ebene. Entscheidend ist, dass weniger Geld für langfristig angelegte Projekte wie etwa die Unterstützung von nationalen Gesundheitssystemen zur Verfügung steht, wohingegen jene Programme, die für die GeldgeberInnen gewinnversprechend erscheinen, zu meist gut finanziert sind. Derzeit erleben wir, wie Bill Gates sich zum großen Fürsprecher globaler Gesundheitspolitik aufschwingt. Doch vor falschen Freunden sei gewarnt. Nicht nur die WHO ist heute mehr denn je auf private Geldgeber wie der Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung angewiesen. Die Bill Gates Stiftung ist mittlerweile der größte private Financier der WHO und hat deshalb großen Einfluss auf die Gesundheitsprogramme der WHO, die sich wiederum auf die jeweiligen nationalen Gesundheitsagenden auswirken. Genau diese Entwicklung wird jedoch von zahlreichen kritischen GesundheitsexpertInnen in der Wissenschaft aber auch in der Zivilgesellschaft, wie dem People‘s Health Movement als wesentliche Ursache der strukturellen Schwäche der WHO benannt.
Private Stiftungen sind weder einer demokratischen Kontrolle unterworfen, noch sind sie öffentlich rechenschaftspflichtig. Zugleich dominieren sie den derzeitigen Gesundheitsdiskurs. Bedenklich an dieser Entwicklung ist, dass die Gesundheitsagenda so dem kritischen Diskurs entzogen wird und verfehlte Prioritätensetzungen nicht mehr in Frage gestellt werden. Gerade das Beispiel Gates-Stiftung zeigt das sehr gut, diese inszeniert sich im Corona-Kontext jetzt als Weltretter zugunsten biomedizinischer und pharmazeutischer Lösungen und hat damit großen Einfluss auf die derzeitige WHO-Strategie. Damit geraten jedoch die sozialen Determinanten für Gesundheit aus dem Blickfeld, welches einer nachhaltigen globalen Strukturpolitik, die auf der Stärkung nationaler Gesundheitssysteme beruht, entgegensteht.
Auswege aus der Krise
In jeder Krise liegt auch eine Chance zur Reflexion. Aus der Corona-Krise zu lernen, hieße einen emanzipatorischen und demokratischen, anstatt neoliberalen Global Governance-Ansatzes zu stärken, der auf einer Idee des globalen solidarischen Handelns, der Menschenrechte und funktionsfähigen globalen Institutionen beruht. Angesprochen ist ein Ansatz, der zivilgesellschaftliche Kräfte mit Gemeinwohlorientierung auf der lokalen, nationalen und globalen Ebene einbindet und der Logik eines demokratischen Bottom-Ups entspricht. In einem aktuellen Unterstützungsaufruf für die WHO, den 23 Staaten im Anschluss an eine Videokonferenz der EU-AußenministerInnen veröffentlichten, wird die Bedeutung von internationalen Organisationen im Kampf gegen die Pandemie hervorgehoben. Österreich beteiligte sich leider nicht an diesem Aufruf. Die Aufgabe kritischer Wissenschaften, aber auch der Zivilgesellschaft und progressiver Parteipolitiken wäre nun, sich zu Menschenrechtspolitiken und handlungsfähigen internationalen Organisationen zu bekennen und diese als wesentlicher Teil demokratischer Krisenlösung einzufordern.
Zum Weiterlesen
• Beigbeder, Yves (2012): Die Weltgesundheitsorganisation im Wandel. Gesundheit für alle bleibt oberstes Ziel, in: VEREINTE NATIONEN Heft 5/2012, S. 195-201
• Global Health Watch (2014): An Alternative World Health Report, People‘s Health Movement, in: Medact, Third World Network, Health Poverty Action, Medico International, and ALAMES (Hrsg.), Zen Books
• Global Health Watch (2017): An Alternative World Health Report, People‘s Health Movement, Medact, Third World Network, Health Poverty Action, Medico International, and ALAMES (Hrsg.), Zen Books
• Kaiser, Jürgen (2018): Warum der Internationale Währungsfonds seine Politik stärker auf die Bekämpfung von Armut und die Reduzierung sozialer Ungleichheit ausrichten muss. In: In: E+Z. Entwicklung und Zusammenarbeit, S. 32-35
• Hamm, Brigitte (2008): Menschenrechte und Privatwirtschaft in der UN. Ein verbindliches Regelwerk ist nicht auf der Agenda, in: Zeitschrift für die Vereinten Nationen und ihre Sonderorganisationen, Heft 5, 2008, S. 219-224
• McCoy, D., Kembhavi, G., Patel, J., and Luintel, A., 2009: The Bill & Melinda Gates Foundation‘s grant-making programme for global health. In: Lancet Vol. 373.
• Meisterhans, Nadja 2016: WHO in Crisis. Lessons learned from the Ebola outbreak and beyond, in: The Chinese Journal of Global Governance, Nr. 2, S.1-29
• IBON International (2014): A Renewed Global Partnership for Sustainable Development, IBON Policy Brief
• Plattform für Globale Gesundheit (PGG), (2014): Globale Gesundheitspolitik – für alle Menschen an jedem Ort. Grundlagen für eine künftige ressortübergreifende Strategie für globale Gesundheit
• Sylla Samba, Ndongo (2018): Misslungene Strategie in Afrika: Strukturanpassung hat Wachstum nicht gefördert, sondern gebremst. In: E+Z. Entwicklung und Zusammenarbeit, S. 29-31