In den letzten Jahren sind globale Wertschöpfungsketten in vielen Bereichen die Norm geworden. Deren Nachteile hat die Corona-Krise offensichtlich gemacht. Von Julia Eder. Zur PDF-Version.
Die Schwächen globaler Wertschöpfungsketten
Corona zeigt aktuell auf, wie fragil globale Wertschöpfungsketten im Katastrophenfall sind. „Just-in-time“ produzierende Wirtschaftszweige, zum Beispiel die Autoindustrie, konnten aufgrund von fehlenden Teilen aus Asien ihre Produktion nicht wie geplant weiterführen. In Europa wurden Medikamente wie Penicilline knapp, weil sie wegen Produktionsunterbrechungen in China nicht mehr von dort eingeführt werden konnten. Desinfektionsmittel, Schutzmasken und Handschuhe sind mittlerweile schwer zu bekommen, weil sie weitgehend außerhalb Europas hergestellt werden. Die Corona-Krise zeigt nun deutlich auf, was in unserem Produktionssystem falsch läuft.
Beispielhaft können wir dies anhand der aktuell im Medizinbereich nicht ausreichend verfügbaren Schutzhandschuhen aufzeigen. Einer der Hersteller solcher Schutzhandschuhe ist Sempermed, einer von vier Geschäftsbereichen der Semperit Gruppe. Bis zur Privatisierung stand diese im Eigentum der staatlichen Creditanstalt. Der Firmensitz von Semperit befindet sich nach wie vor in Wien, aber große Teile der Produktion wurden ausgelagert. Aktuell gibt es 14 Produktionsstandorte. Von den weltweit 6.900 MitarbeiterInnen beschäftigt die Semperit Gruppe rund 3.600 in Asien und rund 900 in Österreich. Am Standort Wimpassing in Niederösterreich werden noch immer Operationshandschuhe produziert sowie Forschung und Entwicklung betrieben. Die Herstellung von Untersuchungshandschuhen wurde jedoch vollständig nach Malaysien ausgelagert. Während die ArbeiterInnen in Österreich nach dem Kollektivertrag der chemischen Industrie bezahlt werden, sind in Malaysien die Gewerkschaftsrechte massiv beschnitten. Anfang 2020 beschlossen Vorstand und Aufsichtsrat, sich gänzlich vom Medizingeschäft (also von Sempermed) zu trennen, weil der Fortbetrieb „hohe Investitionen“ erfordern würde, um im Wettbewerb zu bestehen.
Dieses Beispiel ist nicht außergewöhnlich, sondern repräsentativ. Es gibt eine Vielzahl ähnlicher Fälle der Verlagerung der Produktion von strategischen Gütern in Länder mit geringeren Lohnkosten. Oftmals wurden diese Konzerne auch privatisiert. Es fällt auf, dass die Konzerne meist nicht als Ganzes abwandern, sondern nur Teile der Wertschöpfungskette auslagern (siehe Grafik). Meist handelt es sich dabei um weniger komplexe Teile der Produktion, während Firmensitz, Forschung und Entwicklung, sowie Marketing und Vertrieb üblicherweise nicht mitwandern (allerdings wird manchmal der Firmensitz aus Steuergründen an einen anderen Ort verlegt). Besonders komplexe, technologisch weit fortgeschrittene Produktionsprozesse bleiben oft in den Mutterländern der Konzerne. Das Ergebnis dieser Entwicklung ist, dass Konzerne die Preise für ihre Produktion und somit auch teilweise für das Endprodukt senken können. Österreich ist in Folge dieser Entwicklung in eine große Außenabhängigkeit bei strategischen Gütern geraten. Es hat aber große Vorteile heimische Produktion zu erhalten, weil dann in Krisenzeiten Produktionsabläufe schneller hochgefahren, angepasst oder gänzlich umgestellt werden können.
Die Anpassungsfähigkeit von Industriekapazitäten
Mehrere kleinere und mittlere Betriebe in Österreich haben schnell auf durch die Corona-Krise verursachte Engpässe bei bestimmten Gütern reagiert und die eigene Produktion umgestellt. In Vorarlberg schlossen sich die Grabher Group, Bandex Textil, Getzner Textil, Wolford, die Lustenauer Stickerei Harald Hämmerle sowie das Höchster Unternehmen Tecnoplast zusammen, um eigenständig Atemschutzmasken zu produzieren. Ölz Meisterbäcker liefert die Verschlussclips für die Masken. Außerdem beteiligen sich rund 80 Vorarlberger Änderungsschneidereien an der Initiative. Die Destillerie Lustenau stellt mithilfe von Alkoholspenden Desinfektionsmittel her. Das zeigt, wie Not erfinderisch macht und welches Potenzial in kleinen und mittleren Unternehmen steckt. Im Gegensatz zur vorher erwähnten Eigeninitiative gab es in anderen Ländern auch Versuche privaten Unternehmen die Produktionsumstellung per Gesetz vorzuschreiben. So forderte US-Präsident Trump General Motors (GM) auf, auf die Herstellung von Beatmungsgeräten umzuschwenken. Dafür sollte eine Partnerschaft mit dem Unternehmen Ventec, das in diesem Bereich aktiv ist, eingegangen werden. Da GM laut New York Times für die Umrüstung des Werks in Indiana eine Milliarde US-Dollar vom Staat forderte, erließ Trump den „Defense Production Act“. Dieses Verteidigungsproduktionsgesetz aus dem Korea-Krieg erlaubt der Regierung die Produktion zentral zu steuern, um Güter „im Interesse der nationalen Sicherheit“ herzustellen.
Es zeigt sich also, dass eine Produktionsumstellung auch kurzfristig möglich ist, wenn der Wille (oder der Zwang) da ist. Beim Wandel der Herstellungskapazitäten der Umwelt zuliebe, wird das oft geleugnet. In Zukunft gilt es skeptischer zu sein, wenn die Konversion von Industrien als extrem schwierig bis unmöglich präsentiert wird.
Wertschöpfungsketten re-regionalisieren
Die bisher erwähnten Beispiele zeigen deutlich, wo die Schwächen von global verlaufenden Wertschöpfungsketten liegen. Sie mögen vielleicht die Kosten für die BetriebseigentümerInnen senken, zugleich schaffen sie aber Abhängigkeiten. Die Corona-Krise zeigt, dass strategisch wichtige Güter – zumindest auch – in Österreich hergestellt werden sollten. Beispielsweise werden die aktiven pharmazeutischen Grundstoffe für fast alle Antibiotika mittlerweile in China hergestellt. Bei Lieferengpässen kommt auch in Indien und Europa die Antibiotika-Produktion zum Erliegen. Allerdings ist auch auf die viel beschworene „europäische Solidarität“ in einer Krisensituation kein Verlass, wie die Blockaden von Schutzbekleidungslieferungen an innereuropäischen Grenzen zeigten. Es gilt also darüber nachzudenken, ob wir grundlegende Produkte wie Medikamente, Schutzmasken oder Schutzhandschuhe nicht wieder selbst produzieren und uns auch die Lagerung von Vorräten leisten sollten. Globale Wertschöpfungsketten gilt es so zu kürzen, dass ein Großteil der Produktion national oder regional passiert. Mit neuen Regeln bei Handels- und Industriepolitik gibt dies auch den Ländern des globalen Südens Handlungsspielraum für den Aufbau eigenständiger industrieller Strukturen. Außerdem verhindert das im Sinne der Umwelt, dass große Mengen an Halbfertigfabrikaten um den Globus transportiert werden, nur damit jeder Produktionsschritt an der günstigsten Produktionsstätte ausgeführt werden kann. Selbstverständlich werden wir in Österreich nicht darum herumkommen, Rohstoffe zu importieren. Eine progressive Industriepolitik sollte aber darauf abzielen, dass Produkte bis zum Verkauf nicht mehrmals die Welt umrunden.
Die Debatte zur Globalisierung
In vielen Medien läuft eine Debatte über den Zusammenhang von Globalisierung und Corona-Krise. Der FDP-Politiker Karl-Heinz Paqué schreibt in einem Gastkommentar in „Die Zeit“ vom 31.3.2020, dass die „Globalisierung nicht das Problem [ist], sondern die Lösung“. Er argumentiert, dass die Globalisierung Corona nicht hervorgebracht hätte. Allerdings ist das nicht ganz richtig, da sie durch ihre Wirkmechanismen das Zusammenrücken von Menschen und Wildtieren stark befördert hat, was die Ausbreitung von SARS-Erregern massiv begünstigte. Zudem hat die Globalisierung zur raschen Verbreitung des Virus beigetragen. Damit wird klar, in welch problematische Richtung sich unser Produktionssystem über die letzten Jahre entwickelt hat. In diesem Sinn bringt Claus Leggewie in der „TAZ“ vom 6.3.2020 vernünftige Argumente ein, wenn er schreibt, dass „die Globalisierung eindeutig zu weit gedreht worden [ist], ihre Schattenseiten sind viel zu offensichtlich.“ Später wird er noch deutlicher: „Und natürlich sind unter ökologischen Gesichtspunkten die Dumpingpreise des internationalen Container- und Lkw-Transportwesens ein Skandal – unabhängig davon, dass dieser wegen des Virus gerade erlahmt. Was tun? Die Regionalisierung der Märkte wäre ein wichtiger Baustein zu einer rationalen und schrittweisen Deglobalisierung. Wer arbeits- und sozialpolitische, gesundheitliche und ökologische Kosten zusammenzählt oder in die Bilanz einrechnet, erkennt die immensen Kosten und Kollateralschäden einer aus dem Ruder gelaufenen Globalisierung.“
Was ist mit Deglobalisierung gemeint?
Eine Deglobalisierung in Form einer stärkeren Regionalisierung der Wirtschaft ist durchaus zu begrüßen. Allerdings darf diese nicht die von der Europäischen Kommission geforderten „geschlossenen Wertschöpfungsketten“ anstreben, die als Hauptziel wieder die Erzielung von Exportüberschüssen am Weltmarkt aufweisen. Eine ernstgemeinte fortschrittliche Lösung muss im Bereich der Leichtindustrie auf den europäischen Binnenmarkt und damit an lokalen Konsumbedürfnissen orientiert sein. Im Bereich der Schwerindustrie wird sie nur zum Teil ohne globale Orientierung auskommen können, ohne stark an Kosteneffizienz zu verlieren. Die ausschließliche oder vorrangige Orientierung auf globale Wettbewerbsfähigkeit erzeugt aber auch in diesem Feld hohe soziale und ökologische Kosten, die auch gegengerechnet werden müssen. Ein wichtiger Bestandteil einer binnenzentrierten Entwicklungsstrategie muss die Förderung von Ernährungssouveränität sein. Dazu braucht es eine völlig andere Strategie als die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP), die die EU zum weltgrößten Agrar- und Lebensmittelexporteur gemacht hat, deren Agrargüter lokale Produkte im globalen Süden niederkonkurrieren. Besser wäre es die Agrarproduktion in Europa auf die qualitativ hochwertige Lebensmittelversorgung der eigenen Region zu konzentrieren und Überschüsse als Agrarexporte – ohne Gewinnorientierung – für die Tilgung des Welthungers einzusetzen.
Bei einer Rückverlagerung zentraler Produktionszweige ist zu erwarten, dass die Produktionskosten und somit die Preise steigen. Von so einer Entwicklung könnten einkommensschwächere Bevölkerungsgruppen negativ betroffen sein, argumentieren zum Beispiel der ehemalige österreichische SP-Europapolitiker Hannes Swoboda oder der Ökonom Thieß Petersen. Das ist nur richtig, wenn im Zuge der Deglobalisierung die bestehende Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung unverändert fortbesteht. Denn für die Leistbarkeit von Produkten ist die Lohnentwicklung entscheidend, die durch die Wettbewerbs- und Freihandelslogik unter Druck gekommen ist. Eine stärkere Konzentration der Produktion auf den europäischen Binnenmarkt mit entsprechenden Preiserhöhungen würde die ärmeren Bevölkerungsgruppen nur treffen, wenn die aktuelle Einkommens- und Vermögensverteilung nicht angetastet wird. Das muss allerdings genauso das Ziel sein wie eine Re-Regionalisierung der Wirtschaft. Globaler Handel muss sich wieder stärker auf jene Güter konzentrieren, die man im Inland nicht herstellen oder anbauen kann. Dabei gilt es nicht nur die unmittelbaren Produktionskosten zu berücksichtigen, sondern auch ökologische und soziale Kosten globalisierter Produktion in die Rechnung miteinzubeziehen. Wenn wir zivilisierte Märkte wollen, wird es uns deshalb nicht erspart bleiben, auch über das Ausmaß des Handels sowie die Qualität von Gütern, Arbeits- und Produktionsbedingungen zu diskutieren.
Zum Nachdenken
Im Zuge dieser Krise gilt es aber auch viel grundlegender nachzudenken: Welche Güter benötigen wir wirklich? Wo und unter welchen Bedingungen sollen diese produziert werden? In diesem Zusammenhang muss Wirtschaftsdemokratie ins Spiel kommen. Die Gesellschaft muss mitentscheiden können, welche Produktionsschwerpunkte gesetzt werden. Auf den Konsum mancher Güter können wir verzichten, auf den anderer nicht. Deshalb müssen wir jetzt darauf achten, in welchen Bereichen die Produktion zurückgefahren werden kann, ohne dass massive Versorgungslücken entstehen. Denn hier liegt auch das Potenzial ökologische Kosten zu reduzieren. Der Aufbau kleinerer Wirtschaftskreisläufe wiederum schafft neue Arbeitsplätze. Im Zuge so einer Umstellung müssen wir aber auch soziale Verantwortung für alle jene ArbeitnehmerInnen übernehmen, die aktuell rund um den Globus in die Produktion für uns notwendiger Güter beschäftigt sind. Ein einfacher Rückzug aus den bestehenden Wertschöpfungsketten führt zum Verlust von Arbeitsplätzen und Produktionskapazitäten in vielen Ländern. Hier gilt es die Umstellung der Produktion und den Aufbau von regionalen Wirtschaftskreisläufen auch in anderen Ländern und Weltregionen zu unterstützen. Jeder andere Weg ist bei den bestehenden Ungleichheiten und Ausbeutungsverhältnissen aus einer fortschrittlichen Perspektive nicht denkbar.
Zum Weiterlesen
• Baumgartner, Klaus & Buttler Valerie (2017): Von freien zu zivilisierten Märkten, Jahoda-Bauer Institut, Perspektiven 01/2017.
• Eder, Julia (2019): Progressive Industriepolitik, Jahoda-Bauer Institut, Perspektiven 03/2019.
• Gereffi, Gary & Fernandez-Stark, Karina (2016): Global Value Chain Analysis: A Primer (Second Edition).
• Informationen zu den Vorarlberger Atemschutzmasken inkl. Bestellmöglichkeit
• Leggewie, Claus (6.3.2020): Folgen des Coronavirus: Deglobalisiert euch!
• Paqué, Karl-Heinz (31.2.2020): Globalisierung ist nicht das Problem, sondern die Lösung.
• Petersen, Thieß (1.4.2020): Fünf mögliche Auswirkungen der Corona-Krise auf die internationale Arbeitsteilung.
• Swoboda, Hannes (16.3.2020): Fördert Corona die De-Globalisierung?