Steigende Armut, wachsende Ungleichheit. Es geht um die Zukunft der nächsten Generation. Von Hanna Lichtenberger & Judith Ranftler (beide Volkshilfe Österreich). Zur PDF-Version.
Weltweit könnten die Folgen der Corona-Krise dazu führen, dass bis zu 86 Millionen zusätzliche Kinder Ende dieses Jahres in Armut leben. (UNICEF 2020) Auch wenn Österreich weniger stark betroffen ist, so spüren Kinder und Jugendliche auch hier die Auswirkungen der Pandemie. Während sie die Politik als „Covid-19-Superspreader“ und „Humankapital“ bezeichnete und ihre Rechte und Interessen ignorierte, zeigt sich an den Lebenslagen der Kinder deutlich: die Corona-Krise ist weit mehr als eine Gesundheitskrise. Als multiple Krise zeigen sich viele ihrer Dimensionen und Folgen auch erst nach und nach. Die politische Bearbeitung der Covid-19-Krise verschärft bereits bestehende Benachteiligungen. Denn die neoliberale Umgestaltung der Gesellschaft hat große Lücken ins soziale Netz gerissen, die sich im Kontext der Covid-19-Krise verstärken und auf ohnehin mehrfach diskriminierte Kinder und Jugendliche wirken.
Kinderarmut in Österreich
Die EU-SILC-Erhebung 2019 zeigt, dass in Österreich 17 % der Gesamtbevölkerung von Armut- oder Ausgrenzung gefährdet sind. Konkret sind das 1.472.000 Menschen, davon 303.000 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Das ist mehr als ein Fünftel (21 %) aller armuts- und ausgrenzungsgefährdeten Menschen in Österreich. Ob Kinder in Armut leben müssen, hängt stark vom Erwerbsarbeitsausmaß der Eltern ab. 60 % der Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren, in deren Haushalten eine Person langzeitarbeitslos ist, gelten als armuts- oder ausgrenzungsgefährdet. Noch höher ist Zahl in Haushalten wo Sozialleistungen die primäre Quelle des Einkommens darstellen (83 % armuts-/ausgrenzungsgefährdet). Weist eine der im Haushalt lebenden, erwachsenen Personen eine Behinderung auf, ist die Armutsbetroffenheit bei Kindern und Jugendlichen ebenfalls überdurchschnittlich wahrscheinlich (34 %).
In den letzten Jahren ist ein leichter Rückgang der absoluten Armutszahlen von 1.699.000 (20,6 %) im Jahr 2008 auf 1.472.000 (16,9 %) im Jahr 2019 zu verzeichnen. Die Corona-Krise mit Wirtschaftseinbruch und Rekordarbeitslosigkeit droht diesen positiven Trend zu beenden. Alleine dass fast jedes 5. Kind in Österreich in Armut aufwächst, ist Grund genug für Überlegungen, wie wir als Gesellschaft Kinder und Jugendliche aus der Armut befreien können. Aus der prekären finanziellen Lage ergeben sich für die Kinder und Jugendlichen nämlich nicht nur materielle Einschränkungen, sondern auch gesundheitliche und psychosoziale Folgen, sozialer Ausschluss oder auch verringerte Bildungschancen.
Lebenslagen armutsbetroffener Kinder
15 % der Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren leben in überbelegten Wohnungen, 10 % in feuchten und schimmeligen und 18 % in lauten Wohnsituationen. Armutsbetroffene Kinder und Jugendliche sind von diesen schlechten Wohnverhältnissen stark betroffen. Sie haben im Durchschnitt 14 Quadratmeter Platz zum Leben, Spielen und Lernen. (Bacher 2020) Ein eigener Schreibtisch oder einfach ein Platz, um Hausaufgaben in Ruhe zu erledigen, fehlt dann. Armutsbetroffene Kinder können z.B.: weniger oft an Geburtstagsfeiern von Freund*innen teilnehmen, weil die erwarteten Geschenke nicht bezahlbar sind. Auch sind sie ausgeschlossen, wenn alle Mitschüler*innen vom neuesten Kinofilm erzählen. Durch die fehlende Teilnahme an außerschulischen Freizeitaktivitäten (Sportverein, Kulturinitiative, etc.) ergeben sich weniger soziale Kontakte.
Corona Maßnahmen verstärken Ungleichheit in den Bildungschancen
Armut ist ein Hauptgrund für ungleiche Bildungs- bzw. Lernerfolge (UNESCO 2020), ein Umstand, der auf vielfältige Dimensionen zurückzuführen ist. Schule ist in Österreich keineswegs kostenfrei. Die Schulkostenstudie der Arbeiterkammer zeigt, dass Familien bis zu 855 Euro im Schuljahr für schulbezogene Kosten (z.B.: mehrtägige Schulveranstaltungen, Kopierkostenbeitrag, Materialen für den Werkunterricht, Ausstattung für den Schulalltag oder auch private Nachhilfestunden) aufbringen mussten. Kosten für die Nachmittagsbetreuung oder privates Schulgeld sind hier nicht inkludiert. Und gerade der Schulstart bringt hohe Ausgaben für die Erstausstattung (197 Euro).
Es ist leider zu erwarten, dass die Corona-bedingten Maßnahmen wie das Aussetzen des Regelbetriebs in Schulen und Kindergärten sowie Homeschooling langfristige Auswirkungen auf den Bildungsweg von armutsbetroffenen Kindern und Jugendlichen haben. Das Institut für Höhere Studien hat Lehrer*innen aus NMS und AHS zu ihren Einschätzungen über die Auswirkung von Homeschooling befragt. Ein Zwischenergebnis zeigt, dass 12 % der Schüler*innen im Homeschooling nicht oder nur schlecht erreicht werden konnten. Dieser Anteil steigt in der Gruppe der als benachteiligt eingeschätzten Kinder auf 36 %. Mehr als jedes 5. Kind (21 %) bekam keine Hilfe der Eltern beim Homelearning.
Dazu kommt, dass lt. EU-SILC 36 % aller unter 18-jährigen Armuts- oder Ausgrenzungsgefährdeten keinen PC im Haushalt haben (10 % aller anderen Jugendlichen). Auch der beengte Wohnraum und das Fehlen eines eigenen Schreibtisches werden hier besonders schlagend. Zusätzlich steigen Konflikte in Familien an: 30 % der in der Jugendwertestudie 2020 befragten Jugendlichen geben an, dass seit dem Lockdown die Spannungen in der Familie steigen. Gerade die 16- bis 19-jährigen empfinden das beengte Zusammenleben in den Familien als unangenehm – gerade dann, wenn nur wenig Wohnraum zur Verfügung steht.
Sicht der Betroffenen
Die Volkshilfe Österreich hat im Juni 2020 armutsbetroffene Familien zu Folgen der Corona Krise befragt. Mehr als Dreiviertel aller Befragten (79 %) gaben an, sich jetzt noch mehr Sorgen über die Zukunft zu machen. Über die Hälfte (55 %) sorgen sich auch, dass ihre Kinder in der Schule nicht gut abschließen werden. Auf die Hälfte der befragten Familien (51 %) hat sich die Corona-Krise finanziell negativ ausgewirkt. Ein recht hoher Prozentsatz, wenn man bedenkt, dass ihr Einkommensniveau schon vor Corona unter der Armutsgefährdungsschwelle lag. Auf die Frage, ob und wie sich die Emotionalität ihrer Kinder in der Corona-Krise verändert hat, gaben jeweils mehr als die Hälfte der Eltern an, dass ihre Kinder trauriger (74 %), einsamer (57 %) oder aggressiver (53 %) waren als zuvor.
Für rund zwei Drittel aller Befragten war eine ziemlich bis sehr große Belastung, dass ihre Kinder nicht mehr in die Schule beziehungsweise den Kindergarten gehen konnten. Viele berichten von finanziellen Problemen wegen der Mehrkosten durch das Homeschooling. Neben den bekannten Herausforderungen, wie fehlenden Laptops oder Internetzugang, sowie Mangel an Lernraum, nannten die Meisten, dass ihnen das Wissen (58 %) und die Zeit (38 %) fehle, um ihren Kindern bei den Aufgaben helfen zu können. Beides verweist auf den Zusammenhang zwischen Armut und Bildung, sowie die intergenerationale Weitergabe von Armut.
Gesundheit und Armut
Nicht nur die Lebenserwartung ist stark vom sozioökonomischen Status abhängig, auch Schmerzempfinden und die Chronifizierung von Krankheiten. So zeigt das Robert-Koch-Institut, dass schwere asthmatische Erkrankungen besonders bei Kindern in armutsgefährdeten Familien auftreten, während leichte Formen von Asthma verstärkt bei bessergestellten Kindern und Jugendlichen zu verzeichnen sind. In einer Untersuchung zum Zusammenhang zwischen Gesundheit und Armut betont das Robert-Koch-Institut folgende Themenbereiche als besonders relevant in Bezug auf Kinder und Jugendliche: Entwicklungsstörungen, Unfälle/Verletzungen, Mund-/Zahngesundheit, psychisches Wohlbefinden sowie Früherkennung/Prävention. Eine Studie zum Gesundheitsverhalten verweist für Deutschland auch auf den Einfluss von Wohlstand und Armut in Bezug auf das Niveau der körperlichen Aktivität: je höher der Wohlstand einer Familie, desto mehr bewegen sich die Kinder. Mangelnde Bewegung wirkt sich nicht nur auf die Gesundheit, sondern auch auf den Lernerfolg und die Konzentrationsfähigkeit aus. Einen sich daraus ergebenden Trend für die Auswirkungen von Kinderarmut auf Kindergesundheit zeichnet sich auch im Bereich Ernährung ab, etwa wenn es um den Obst- und Gemüsekonsum geht, der bei armutsbetroffenen Kindern deutlich hinter dem liegt, was auf dem Teller wohlhabenderer Kinder und Jugendlicher zu finden ist.
Auswirkungen der Covid-19-Krise auf die Gesundheit
Die politischen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie wirken besonders auf Kinder und Jugendliche, die von Armut und Ausgrenzung betroffen sind. So wurden Kontroll- und Impftermine bei Ärzt*innen nicht wahrgenommen, die auch vor dem Hintergrund des Gewaltschutzes (wie auch Schulen und Kindergärten) eine wichtige Funktion einnehmen. So ist für Deutschland in einer breit angelegten Studie ermittelt worden, dass knapp 10,5 % der Kinder während der Ausgangsbeschränkungen Opfer von häuslicher Gewalt waren. Für Österreich gibt es zwar keine vergleichbare Studie, doch vermeldete etwa „Rat auf Draht“ im März ein um 30 % erhöhtes Telefonaufkommen. Auch die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen litt unter den Ausgangssperren: Eine Studie des Departments für Psychotherapie und Biopsychosoziale Gesundheit an der Donau-Universität Krems zeigt, dass sich depressive Symptome in der Corona-Krise vervielfacht haben (von etwa 4 % auf mehr als 20 %). Junge Erwachsene waren hier besonders betroffen. Hinzu kommen die ebenfalls ausgesetzten psychotherapeutische Angebote, die etwa für Kinder, die auf Grund ihrer Fluchtgeschichte traumatisiert sind, besonders gravierend waren. Im Bereich anderer Therapieangebotes, wie ergo- und physiotherapeutische oder logopädische Betreuung kam es ebenfalls zu Ausfällen. Die fehlenden Face-to-Face-Angebote oder auch veränderte Settings psychotherapeutischer oder psychologischer Betreuung durch Schutzmasken konnten ebenso zusätzliche Belastungen bedeuten. Für andere war es unter den Corona-Bedingungen unmöglich, Erstkontakt zu div. Stellen im Bereich psychosozialer Hilfe in Anspruch zu nehmen.
In der bereits erwähnten Umfrage der Volkshilfe Österreich wird deutlich, dass sich armutsbetroffene Eltern von Kindern mit besonderem Förderbedarf besonders alleine gelassen gefühlt haben. Mütter und Väter berichteten etwa von den Schwierigkeiten im Home Schooling mit ihren Kindern, die unter Lernschwächen, ADHS, Legasthenie, Dyskalkulie oder einer psychischen Behinderung leiden. Eltern mussten in der Phase des Lockdowns also nicht nur ihrer Rolle als vorübergehende Lehrkräfte gerecht werden, sondern übernahmen zusätzliche Aufgaben, für die im Normalfall ausgebildete Fachkräfte zur Verfügung stehen. Für Kinder mit speziellem Förderbedarf bestand im Aussetzen von verschiedenen Therapiestunden, bei denen der Behandlungserfolg unter anderem durch die kontinuierliche Betreuung erreicht wird, ein erheblicher Mangel an Behandlungsleistungen, deren Auswirkungen erst in der Zukunft sichtbar werden wird. Hier werden auch materielle Benachteiligungen schlagend. Denn ob und wie intensiv der Förderbedarf durch die Eltern oder durch die Anschaffung div. Geräte/Literatur/Materialen oder Online-Angebote ausgeglichen werden kann, ist auch eine Frage des Geldes und der Zeitressourcen. Das Fehlen eines eigenen Tablets, eines Computers oder einer guten Internetverbindung in dieser Zeit konnte für die Betroffenen also auch eine erhebliche gesundheitliche Einschränkung bedeuten. Ein ebenfalls nicht zu unterschätzender Effekt auf die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen im Zuge der Covid-19-Maßnahmen war der Entfall der (täglichen) Turnstunde. Während Kinder aus bessergestellten Familien eine bewegungsorientierte Freizeitgestaltung mit eigenen Fahrrädern oder Lauf- und Ballspielen im Garten wahrnehmen konnten, waren armutsbetroffene Kinder und Jugendliche besonders von der Sperre von Parks und öffentlichen Erholungsräumen betroffen und daher in ihren Möglichkeiten der Bewegung eingeschränkt.
Eine weitere gesundheitliche Dimension der Corona-Schließungen stellt der Wegfall eines warmen Mittagessens in Kindergarten, Schule oder Hort dar. Denn während Kinder aus wohlhabenderen Familien wesentlich häufiger an Schultagen frühstücken, ist das bei Kindern aus finanziell schlechter gestellten Familien weniger oft der Fall. Das wirkt sich nicht nur auf den Lernerfolg nachteilig aus, sondern auch auf die Gesundheit von Kindern. Umso wichtiger ist, dass Kinder und Jugendliche in der Nachmittagsbetreuung oder der Ganztagsschule die Möglichkeit haben, ein (ausgewogenes) Mittagessen zu erhalten.
Was es jetzt braucht
Die Corona Krise verschärft soziale Ungleichheiten, im Bildungssystem genauso wie in der Gesundheitsversorgung und der Betreuung. Armutsbetroffene Familien und Kinder waren und sind besonders von den Covid-19-Maßnahmen besonders betroffen. Es geht um Abschaffung von Armut und gerechte Chancen für alle Kinder unabhängig von ihrer Herkunft.
Dazu braucht es jedenfalls:
– eine staatliche Kindergrundsicherung
– eine Anhebung des Arbeitslosengeldes auf zumindest 75 %
– den Ausbau der Schulsozialarbeit
– die flächendeckende Einführung der ganztägigen, gemeinsamen Schule von 6-14 Jahren
– eine Ausbildungsgarantie für Jugendliche bis 24 Jahre
Zum Weiterlesen
• Bacher, Johann (2020): 215.500 Kinder leben in Österreich in beengten Wohnungsverhältnissen
• Butterwegge, Christoph/ Klundt, Michael/ Zeng, Matthias (2005): Kinderarmut in Ost- und Westdeutschland, 1.Aufl., Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften
• EU SILC (2020): Community Statistics on Income and Living Conditions 2019
• HBSC (Health Behaviour in School-aged Children): Studienverbund Deutschland (2020a): Faktenblatt „Obstkonsum von Kindern und Jugendlichen”
• HBSC (Health Behaviour in School-aged Children): Studienverbund Deutschland (2020b): Faktenblatt „Gemüsekonsum von Kindern und Jugendlichen”
• Institut für Höhere Studien (2020): LehrerInnenbefragung
• Jugendkultur (2020): Jugendwertestudie 2020: Der Corona-Report
• Lampert, Thomas/Saß, Anke-Christine Saß/Häfelinger, Michael/Ziese, Thomas/ hrsg. v. Robert-Koch-Institut (2005): Beiträge zur Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Armut, soziale Ungleichheit und Gesundheit. Expertise des Robert Koch-Instituts zum 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung
• Pieh, Christoph/Budimir, Sanja Probst, Thomas (2020): Mental health during COVID-19 lockdown: A comparison of Austria and the UK
• Schober, Barbara et al. (2020): Lernen unter COVID-19-Bedingungen
• Springer, Gudrun (2016): Arbeiterkammer-Studie: Schuljahr kostet Eltern im Schnitt 855 Euro pro Kind
• UNESCO (2020): Inklusion und Bildung: Für Alle heißt für Alle. Weltbildungsbericht 2020 – Kurzfassung
• UNICEF (2020): COVID-19 treibt Kinder in die Armut: Bis zu 86 Millionen zusätzliche Kinder könnten Ende 2020 in Armut leben
• Volkshilfe (2020): Umfrage zu Corona und Kinderarmut, Wien