Eine Wiederbelebung der europäischen Integration durch Frankreich und Deutschland? Von Alexander Barta. Zur PDF-Version.
Während Deutschland gesamtwirtschaftlich relativ gut die jüngsten Krisen überstanden hat, ist Frankreichs Wirtschaft charakterisiert von eher durchwachsenem Wachstum. Das französische Wachstumsmodell basiert auf relativ großzügigen Löhnen zur Stärkung des Binnenkonsums, der die treibende Kraft für Wirtschaftswachstum ist. Komplementiert wird das mit einem schleichenden Trend zu erhöhter Privathaushaltsverschuldung als Garant für die Zahlungsfähigkeit der einzelnen Haushalte. Der dienstleistungsdominierte Exportsektor ergänzt das Wachstumsregime und ist als Puffer in Krisenzeiten zu verstehen. Der Exportsektor gilt als weit weniger wichtig als der Binnenkonsum, in seinem Potential Wachstum zu generieren. Das Wachstumsmodell in Frankreich ist daher ausgewogen und weit weniger exportorientiert als das deutsche. Nicht zu verschweigen sind die größten makro-ökonomischen Probleme des Landes: hohe Arbeitslosigkeit, Handelsdefizit und die krisenbedingte Staatsverschuldung.
Europäische Integration brachte große wirtschaftspolitische Umbrüche
Durch die Öffnung der europäischen Kapitalmärkte gehört das Land heute zu den am stärksten finanzialisierten Ländern der Welt, da es über eines der am meisten internationalisierten Bankensysteme verfügt. Die steigende öffentliche Verschuldung wird deshalb v. a. auf die jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrisen zurückgeführt. In jenen haftete bekanntlich der Staat für die verantwortungslosen Finanzgeschäfte französischer und deutscher – sogenannter – systemrelevanter Banken. Besonders auffallend ist, dass Frankreich und Deutschland in Bezug auf ihren öffentlichen Finanzhaushalt seit den Krisen stark, d. h. bis auf fast ein Drittel ihrer Wirtschaftsleistung, auseinander driften. Frankreich hat zudem Schwierigkeiten das Ausbildungssystem so zu gestalten, dass es unter dem Druck der europäischen Integration und Globalisierung Stand hält.
Im Gegensatz zu Deutschland unterlag Frankreich im Zuge der Binnenmarkterweiterung durch die EU einer massiven Deindustrialisierung, so dass seit den 1980er Jahren rund zwei Millionen Arbeitsplätze im industriellen Sektor verloren gingen. Gemessen an gearbeiteter Stunde zeigt sich Frankreichs Arbeitsproduktivität jedoch effizienter als die Deutschlands. Im internationalen Vergleich toleriert Frankreich relativ hohe Lohnkosten gemessen an der jeweiligen Produktivität im Industrie- und Niedriglohnsektor. Somit trägt der Wettbewerbsdruck aus Deutschlands Niedriglohnsektor mit Sicherheit auch seinen Anteil an Frankreichs chronisch hoher Arbeitslosigkeit. Trotz des Rückgangs der Einkommensungleichheit in der unteren Einkommenshälfte macht sich angesichts steigender Unsicherheit, anhaltender Perspektivlosigkeit und hoher Arbeitslosigkeit ein Gefühl des Statusverlusts und Abgehängtseins in weiten Teilen der Bevölkerung Frankreichs breit. Aus diesen Bevölkerungsschichten konnte Le Pen viele Stimmen sammeln.
Das Programm Macrons verspricht mehr Zusammenarbeit auf EU-Ebene
Emmanuel Macron als neuer Präsidenten Frankreichs steht vor großen europäischen Herausforderungen, vor allem im Bereich der Währungs- und Wirtschaftspolitik, Flucht- und Migrationspolitik sowie der gefährlich hohen Jugendarbeitslosigkeit an Europas Peripherie. Sieht man sich das Programm seiner Bewegung En Marche an, steht das Bekenntnis zu einem stärkeren und gerechteren Europa im Mittelpunkt. So soll für die Eurozone ein neues Budget für Zukunftsinvestitionen, Nothilfsmaßnahmen und die Bewältigung von Wirtschaftskrisen geschaffen werden, dem ein eigener Wirtschafts- und Finanzminister der Eurozone vorsteht und der wiederum von einem Eurozonen-Parlament demokratisch kontrolliert werden soll. Hinzu kommt die Forderung nach europaweit einheitliche Rahmenbedingungen für die Festlegung und Durchsetzung grundlegender sozialer Rechte: Recht auf Bildung, Gesundheitsversorgung, Arbeitslosenversicherung und Mindestlohn. Deutschland fordert er, zwar nicht ausdrücklich im Programm selbst, aber dennoch auf, Handelsüberschüsse zu senken und Investitionen zu tätigen.
Neoliberalismus mit menschlichem Antlitz?
Das Programm verbindet wirtschaftspolitisch nachfrage- und angebotsorientierte Maßnahmen. Eckpfeiler des Programms für Frankreich sind die ökologische Modernisierung der Wirtschaft mit einem Investitionsplan über 50 Mrd. Euro, eine Reform des Steuersystems und des Arbeitsmarkts, sowie eine Reduzierung der Staatsausgaben. Der Investitionsplan hat u. a. fünf Mrd. Euro für das Ausbildungswesen im Sinn, der für die zukünftige Entwicklung des französischen Wachstumsmodells wegweisend sein wird. Steuerpolitisch ist geplant, die Unternehmenssteuer von 33 auf 25 Prozent zu senken und eine Steuer von 30 Prozent auf alle Kapitalerträge einzuführen. Außerdem soll vier Fünftel der Haushalte die Wohnsteuer erlassen und die Vermögenssteuer aufgeweicht werden.
Bezüglich des Arbeitsmarkts sieht das Programm die Einführung eines 13. Mindestlohngehalts vor, indem dafür die Sozial- und Krankenversicherungsbeiträge abgeschafft und die 2016 eingeführte monatliche finanzielle Unterstützung von 160 Euro für Niedriglohnempfänger verdoppelt werden soll. Außerdem ist eine Reduzierung der Sozialausgaben für alle Beschäftigten im Privatsektor bei gleichzeitiger Erhöhung des allgemeinen Sozialbeitrags geplant, um die Kaufkraft als zentralen Baustein für Wachstum in Frankreich zu stärken. Im Gegenzug soll der Kündigungsschutz massiv durchlöchert werden. Der zunehmenden Prekarisierung durch Kurzzeitarbeitsverträge will Macron eine Erhöhung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge für diejenigen Unternehmen entgegensetzen, welche übermäßig auf prekäre Arbeit zurückgreifen. Umgekehrt würden Unternehmen, die stabile Arbeitsplätze anbieten, weniger bezahlen müssen. Zudem möchte er die Unterstützung der Arbeitslosen ausweiten, gleichzeitig aber Aktivierungs- und Sanktionselemente in der Arbeitslosenversicherung verstärken und ausbauen.
Geplante Tariföffnung und Schwächung der Kollektivverträge auf Kosten der Lohnabhängigen
Obwohl Macron die Sozialpartner jedoch durch die Förderung von gewerkschaftlicher Betätigung stärken möchte, setzt er auf Vereinbarungen auf Betriebsebene und würde Branchentarifverträge nur akzeptieren, wenn keine Vereinbarungen zwischen den Unternehmen und Gewerkschaften erzielt werden können. Dies würde die Gestaltungsmacht der Gewerkschaften deutlich verringern, da eine Zurückdrängung der Kollektivverträge die Lohnabhängigen spalten und diese letztlich allein der Macht der Unternehmen gegenüber stehen würden. Es kann angenommen werden, dass die Schwächung der Gewerkschaften die Wegbereitung für weitere Deregulierungsmaßnahmen auf dem Arbeitsmarkt ist. Die Umsetzung der „Arbeitsrechtreformen“ soll zeitnah erfolgen: durch die Stärkung der Autonomie der Unternehmen hinsichtlich der Regelung von Löhnen, Arbeitszeit, Sicherheit und Gesundheit durch betriebsinterne „Referenden“ würden diese Vereinbarungen an die Stelle des vom französischen Staat getragenen Arbeitsrechts treten, so dass Firmen dieses breitflächig umgehen könnten. Macrons neuer Premierminister Édouard Philippe hat zentrale Aspekte der Reformagenda schon am 6. Juni 2017 vorgestellt. Gewerkschaften haben bis Anfang August Zeit dagegen zu mobilisieren. Die angedeutete strenge Haushaltsdisziplin betrifft Einsparungen im Gesundheitswesen (15 Mrd. Euro), Gebietskörperschaften (10 Mrd. Euro), Sozialausgaben (10 Mrd. Euro) Sowie im öffentlichen Dienst und Verwaltung (25 Mrd. Euro). Diese hohen Einsparungen drohen leider die oben aufgeführten nachfrageorientierten Maßnahmen nichtig zu machen bzw. im Keim zu ersticken.
Fazit
Abschließend und differenziert betrachtet bietet Macrons Programm vielversprechende, ambitionierte und notwendige Änderungsvorschläge der volkswirtschaftlichen Rahmenbedingungen speziell auf EU-Ebene. Innenpolitisch gilt der ehemalige Investmentbanker und Wirtschaftsminister als Kopf der unternehmensfreundlichen Wirtschaftspolitik der sozialistischen Vorgängerregierung Hollande. Inwiefern sich eine Abkehr von Kollektivverträgen positiv auf die Sozialpartner auswirkt kann zu Recht bezweifelt werden. Ganz im Gegenteil würde dies eine Schwächung der schon ohnehin strukturell benachteiligten Gewerkschaften bedeuten. Seine Maxime notfalls auch mit Verordnungen statt Gesetzen das Arbeitsrecht derart fundamental zu ändern erinnert stark an die autoritäre Wirtschaftspolitik der Weimarer Republik, speziell mit Hinblick auf den geplanten Ausbau des repressiven Staatsapparates*. Die Stärkung der Binnennachfrage durch Investitionen, Reregulierung des Niedriglohnsektors und Ausweitung der Arbeitslosenunterstützung werden sich voraussichtlich positiv auf das Wachstumsmodell auswirken.
Trotzdem steht Macron als liberaler Präsident eher für eine unternehmerfreundliche Politik. Er wird aller Voraussicht nach strenge Haushaltsdisziplin à la Schäuble walten lassen und den Weg für eine grundsätzliche Flexibilisierung des fran zösischen Arbeitsmarktes dem deutschen Modell entsprechend bereiten. Ohne eine signifikante Verbesserung der Lebenslagen v. a. in den Gebieten mit hoher Arbeitslosigkeit wird durch eine solche Wettbewerbspolitik, die lediglich auf eine interne Abwertung der Löhne zielt, den Boden für Le Pen nähren. Prinzipiell hat Macron Recht, wenn er Deutschland dazu auffordert, die Binnennachfrage durch mehr Investitionen und höhere Arbeitsentgelte zu stärken, um so zu erreichen, seine äußerst hohen Handelsüberschüsse zu senken. Dies würde den Druck auf den französischen Arbeitsmarkt abschwächen, so dass die chronisch hohe Arbeitslosenrate leichter zu bekämpfen wäre. Insgesamt deutet vieles auf eine Wiederbelebung der deutsch-französischen Beziehungen hin und könnte einen essentiell wichtigen Integrationsschub für die Eurozone mit sich bringen.
*Aufrüstung und Kompetenzerweiterung der Polizei sowie Aufstockung durch 10.000 neue Stellen; Ausbau des Gefängnisapparats um weitere 15.000 neue Plätze; Erhöhung der Militärausgaben auf 2 Prozent des BIP.