Der Arbeitsmarkt ist in der Krise. Eine Neuverteilung von Arbeit ist dringend notwendig. Von Johannes Rendl & Georg Hubmann. Zur PDF-Version.
Arbeit ist nicht nur einfach eine Erwerbstätigkeit. Sie ist, mit Marie Jahoda gesprochen, “das innerste Wesen des Lebendigseins”. Damit verwies die Sozialforscherin auf die psychosozialen Vorteile von denen Menschen in guter Arbeit profitieren. Gute Arbeit ist also ein wichtiger Baustein für ein erfülltes Leben. Arbeit hilft soziale Kontakte zu knüpfen und Netzwerke auf- oder auszubauen. Erfahrungen am Arbeitsplatz können auch zur Politisierung und Organisierung z.B. in einer Gewerkschaft führen. Arbeit als “Lebendigsein” umfasst für Jahoda alle diese Möglichkeiten, aber nur wenn es Arbeit unter guten Bedingungen ist.
Viel Arbeit oder keine Arbeit
Aktuell befinden wir uns aber schon länger in der paradoxen Situation, dass Arbeit gesamtgesellschaftlich nicht mehr gleichmäßig verteilt ist. Vielen Menschen bleiben sowohl die ökonomischen als auch die psychosozialen Vorteile von Arbeit verwehrt. Für andere hingegen verdichtet sich die Arbeit zusehends, sie müssen immer mehr leisten und werden dafür nicht angemessen durch Geld oder Freizeit kompensiert. Die ÖsterreicherInnen arbeiteten 2019 im Durchschnitt 41,1 Stunden in der Woche und liegen damit im Spitzenfeld der Europäischen Union. Die Produktivität pro Arbeitsstunde steigt kontinuierlich, genauso tun es die Wochenarbeitsstunden. Seit den 1970er Jahren gab es in Österreich keine Arbeitszeitverkürzung mehr. Gleichzeitig stagniert die Arbeitslosenquote seit Jahren. Diese Situation hat sich durch die Corona-Pandemie schnell und stark verschlechtert. Die Arbeitslosigkeit droht strukturell zu werden.
Nach dem anfänglichen Schock im März 2020, als die Arbeitslosenzahl schlagartig auf über eine halbe Million stieg, konnte sich der Arbeitsmarkt zwischenzeitlich leicht erholen. Die Zahlen liegen immer noch weit über dem Niveau vor der Corona-Pandemie. Im November 2020 waren 457.197 Personen arbeitslos oder in Schulungen, das sind 25% mehr als im Vergleichsmonat 2019. Österreich wird das Jahr voraussichtlich mit einer Arbeitslosenquote von fast 10% beenden. Laut Konjunkturprognosen des WIFO und des IHS soll die Arbeitslosenquote 2021 zwar schrumpfen, aber nur in sehr geringem Maße. Man geht von 0,5% bis 1% aus. Neben dem individuellen ökonomischen und psychosozialen Schaden, der den Beschäftigungslosen entsteht, stellt steigende Arbeitslosigkeit auch für unseren Sozialstaat ein wachsendes Problem dar. Einerseits weil durch Arbeitslosigkeit massive öffentliche Kosten anfallen, andererseits fehlen die Beschäftigten, die in das Pensions- und Sozialversicherungssystem einzahlen. Es gilt also darüber nachzudenken, wie man wieder mehr Menschen in Beschäftigung bringt und wie man andere entlastet. Die Notwendigkeit Arbeit neu zu verteilen liegt auf der Hand. Um diese zu gewährleisten, gibt es mehrere Möglichkeiten.
Von der Kurzarbeit zur Arbeitszeitverkürzung
Das Modell “Kurzarbeit” ist für viele ArbeitgeberInnen und –nehmerInnen ein attraktives Programm. Viele Betriebe nutzen diese Art der Arbeitszeitverkürzung, um ihre MitarbeiterInnen zu halten und Arbeitslosigkeit zu vermeiden. Am Höhepunkt der Corona-Pandemie wurden für 1,35 Mio. ArbeitnehmerInnen Kurzarbeitsbeihilfen beantragt, mit Dezember 2020 sind es noch 276.370 Personen. Auch wenn nicht alle Betriebe, tatsächlich die Kurzarbeit in vollem Ausmaß in Anspruch genommen haben, ist die Anzahl enorm. Das Kurzarbeits-Modell bietet für beide Seiten viele Vorteile. Am wichtigsten ist dabei die Übernahme von Personalkosten für die Betriebe. Die ArbeitgeberInnenseite kann flexibler reagieren, wenn wieder Aufträge eingehen. Die ArbeitnehmerInnenseite hat die Sicherheit, dass sie 80 – 90% ihres bisherigen Nettoeinkommens bekommt, Sozialversicherungsbeiträge in Höhe der vorangegangenen Normalbeschäftigung eingezahlt werden und das Beschäftigungsverhältnis aufrechtbleibt. Dem Staat entstehen geringere volkwirtschaftliche Kosten, als im Falle der Arbeitslosigkeit. Angelehnt an das Kurzarbeitsmodell wäre es möglich eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung zur Eindämmung der Arbeitslosigkeit und gerechten Verteilung der Arbeit einzuführen. Die historischen Erfahrungen mit Arbeitszeitverkürzungen weisen einen durchaus positiven Beschäftigungseffekt aus.
Um mehr Jobs zu schaffen und Arbeit gerechter zu verteilen, schlagen Arbeitsmarkt-ExpertInnen ein neues Arbeitszeitverkürzungsmodell vor. Es orientiert sich mit 32 Stunden an der Wunscharbeitszeit von Personen mit Kinderbetreuungspflichten. Das Modell funktioniert folgendermaßen: Wenn vier Personen in einem Unternehmen ihre Arbeitszeit von 40 Stunden auf 32 Stunden reduzieren, muss als Voraussetzung dafür eine zuvor arbeitslose Person eingestellt werden. Die neue Arbeitskraft übernimmt die durch die Reduktion gewonnene Arbeitszeit und dafür
gibt es eine Förderung für maximal 2 Jahre. Das heißt, um in diesem Modell 50.000 Arbeitslose in den Arbeitsmarkt zu integrieren, müssten 200.000 Beschäftigte die Arbeitszeit reduzieren. Die Beschäftigten bekommen trotz Reduktion der Arbeitszeit zwischen 90 und 100 % des vorherigen Einkommens weiterbezahlt. Die Unternehmen erhalten eine Arbeitszeitverkürzungs- Beihilfe (AZV-Beihilfe) gestaffelt nach dem Einkommen.
• Die Bruttoersatzrate bis 1.700 Euro beträgt 100%.
• Von 1.700 bis 2.400 Euro beträgt die Bruttoersatzrate 95%.
• Bei einem Einkommen von 2.400 bis 5.370 beträgt die Bruttoersatzrate 90%.
• Keine Förderungen gibt es ab 5.370 Euro brutto im Monat.
Der Staat finanziert die Lohnsubventionen. Aber auf der anderen Seite spart man sich Ausgaben für Arbeitslosengeld und Versicherungsbeiträge. Gleichzeitig steigen die staatlichen Einnahmen, weil mehr Menschen Steuern und Abgaben leisten. Für ein Modell in dem 120.000 Beschäftigte mit einem Bruttoeinkommen von 1.700 Euro, 50.000 Beschäftigte mit einem Bruttoeinkommen von 2.400 Euro und 30.000 Beschäftigte mit einem Bruttoeinkommen von 5.370 Euro ihre Arbeitszeit um 20 Prozent reduzieren und mit der AZV-Beihilfe gefördert werden, belaufen sich die Nettokosten auf rund 285 Mio. Euro pro Jahr. Das wären max. 5.700 Euro zusätzliche Kosten pro Person, für 50.000 Menschen, die wieder eine Arbeit und somit eine Perspektive haben. Das ist eine vergleichsweise geringe Investition zur Beseitigung von Arbeitslosigkeit.
Eine Arbeitszeitverkürzung könnte so einen ersten Schritt in Richtung Vollbeschäftigung bedeuten. Sie ist aber nur ein Teil einer Offensive für eine beschäftigungsorientierte Wirtschafts- und Konjunkturpolitik.
Noch einen Schritt weitergedacht: Jobgarantie
In Österreich gibt es keine historischen Erfahrungen mit einer Jobgarantie. Das wird jetzt in einem Projekt des AMS Niederösterreich zusammen mit der Universität Wien und der Universität Oxford geändert. In Gramatneusiedl, wo auch das ArbeiterInnenviertel Marienthal liegt – das Marie Jahoda durch ihre Studie zu den Auswirkungen der Arbeitslosigkeit bekannt machte – wird eine öffentliche Jobgarantie für Langzeitbeschäftigungslose eingeführt. Für die Schaffung von gemeinnützigen Jobs gibt es eine Lohnkostenförderung von bis zu 100% über drei Jahre.
Während ForscherInnen sich nun die Auswirkungen einer Jobgarantie genau ansehen, liegen die materiellen und psychosozialen Vorteile von Beschäftigung, wie oben geschildert, auf der Hand. Neben der hohen Arbeitslosigkeit durch die Corona-Pandemie tut sich aber ein weiteres großes Problem auf, das sich nun verstärken könnte: die Langzeitbeschäftigungslosigkeit. Im November 2020 waren 127.479 Personen Langzeitbeschäftigungslos, d.h. über 1 Jahr ohne Arbeit. Es wird höchste Zeit für die öffentliche Hand die Menschen materiell und psychisch zu entlasten und als letzter Anbieter einer Beschäftigungsmöglichkeit aufzutreten. Vor allem für all diejenigen, die am “Markt” selbst keine Beschäftigung finden können. Dadurch wird Armut und Ungleichheit verringert, Arbeitslose erhalten durch eine Jobgarantie ihre Qualifikationen, bauen sie aus und können sich neue aneignen. Sie bauen sich durch die Arbeit ein Netzwerk auf, das die Tür zu weiteren Beschäftigungsmöglichkeiten öffnet. Auf makroökonomischer Ebene hebt die Jobgarantie das allgemeine Lohnniveau und sichert Konsumnachfrage sowie Steuereinnahmen. Zusätzlich funktioniert das Umlagesystem bei den Pensionen durch neue BeitragszahlerInnen weiterhin gut für alle Menschen. In den Genuss der Jobgarantie sollten vor allem ältere Personen über 50 kommen, um Altersarmut zu verhindern und Menschen wieder in Beschäftigung zu bringen, die seit über einem Jahr keine mehr finden. Das grenzt auch die Kosten und Mitnahmeeffekte ein. 40.000 neu geschaffene Jobs mit einem Bruttomonatseinkommen von 1.928 Euro würden in etwa 270 Mio. Euro Nettokosten verursachen. Zusammen mit den Kosten einer staatlich geförderten Arbeitszeitverkürzung würde man bei 555 Mio. Euro Staatsausgaben stehen.
Arbeitslosigkeit wird das bestimmende Thema der nächsten Jahre bleiben und zu einem zunehmenden Problem für den Zusammenhalt der Gesellschaft, wenn jetzt nicht gehandelt wird. Die Modelle liegen auf dem Tisch, es braucht nun den politischen Willen sie durchzusetzen.
Zum Weiterlesen:
• Figerl, Jürgen/Tamesberger, Dennis/Theurl, Simon (2020): Ein Vorschlag für ein staatlich gefördertes
Arbeitszeitverkürzungsmodell. Von der Kurzarbeit zur 32-Stundenwoche: Eine erste Kostenschätzung
• Figerl, Jürgen/Tamesberger, Dennis/Theurl, Simon (2020): Arbeitszeitverkürzung ist sinnvoll und finanzierbar, A&W Blog, 12.10.2020
• Jahoda, Marie (2019): Arbeitslose bei der Arbeit & Aufsätze und Essays, Innsbruck/Wien, Studienverlag
• Tamesberger, Dennis/Theurl, Simon (2019): Mit einer Jobgarantie die Knappheit am Arbeitsmarkt bekämpfen, Perspektiven 7/2019