Wie das österreichische Schulsystem die Möglichkeiten von Alexandra und Kamil verbaut und ihre Talente ungenützt lässt. Zur PDF Version
Kamil ist zehn Jahre alt. Seine Eltern sind vor über zwanzig Jahren nach Österreich gezogen, haben die Pflichtschule nachgeholt. Kamil ist das, was viele einenguten Schüler nennen. Auch Alexandra schreibt regelmäßig gute Noten. Die Familie – der Vater ist Altenfachbetreuer, die Mutter arbeitet für eine Baufirma- lebt am Land. Kamil und Alexandra werden beide keine höhere Schule besuchen. Sie werden beide wohl nicht studieren. Wie kann man das jetzt schon abschätzen, wo sie doch gerade erst zehn sind? Es liegt am heimischen Schulsystem – in dem nach wie vor Wohnort, Geschlecht, Bildung der Eltern und die Alltagssprache über den Bildungsweg entscheiden.
Bildung wird vererbt
Je höher der Bildungsstand der Eltern, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit eines hohen Bildungsabschlusses (Matura oder Universität) der Kinder. Das ist der Vorteil von Friedrich. Seine Eltern sind AkademikerInnen und wohnen am Stadtrand. Er besucht das Gymnasium, wenns wo zwickt zahlen seine Eltern die Nachhilfe.
Selten ist die Statistik so eindeutig wie in der Schule. 69 Prozent der VolksschülerInnen, deren Eltern mindestens einen Maturaabschluss haben wechseln in eine AHS-Unterstufe. Hingegen besuchen nur 32 Prozent der SchülerInnen, deren Eltern maximal einen Lehrabschluss aufweisen, die AHS-Unterstufe.
Beim Übergang in die Sekundarstufe II (Oberstufe) verschärft sich dieser Effekt ein weiteres Mal: In der AHS Oberstufe sind nur ein Viertel der Kinder von Eltern mit Lehrabschluss bei den anderen drei Viertel haben die Eltern zumindest auch selbst maturiert.
Soziale Ungleichgewichte
Auch die soziale Zusammensetzung der SchülerInnen an einer Schule hat beträchtlichen Einfluss auf die Schullaufbahn. Denn der Bedarf an Fördermaßnahmen ist in sozialen Brennpunktschulen stärker als in Schulenderen SchülerInnen aus höher gebildeten Familien kommen. An Schulen in sozioökonomisch benachteiligter Umgebung ist es daher für gleich begabte Kinder schwieriger, die gleichen Leistungen zu erzielen. Das Schulsystem schafft es derzeit nicht, vorhandene Ungleichheiten auszugleichen. Das liegt nicht an den LehrerInnen, sondern am System, das diese Unterschiede nicht berücksichtigt und keine individuelle Förderung zulässt.
Ganztagsschulen mit verschränktem Unterricht
Die verschränkte Ganztagsschule ist die optimale Schulform, um die Talente der Schulkinder bestmöglich zu fördern. Unterrichts-, Lern- und Freizeitphasen wechseln mehrmals im Laufe eines Tages ab, Hausübungen und Schularbeitsvorbereitungen werden unter professioneller pädagogischer Aufsicht erledigt. Auch den modernen Familienmodellen und geänderten gesellschaftlichen Herausforderungen, wie etwa Sprachförderung oder soziales Lernen, kann besser Rechnung getragen werden. Außerdem bleibt Zeit für die individuelle Förderung der Kinder
Bedarfsgerechte Schulfinanzierung
Sozial schlechter gestellte Kinder besuchen derzeit meist Schulen in sozioökonomisch prekärer Umgebung, was zu doppelter Benachteiligung führt. Einerseits werden ihre individuellen schlechteren Startbedingungen in der Schule nicht kompensiert. Andererseits führen Schulen mit schwierigeren Rahmenbedingungen zusätzlich zu schlechteren Lernerfolgen unabhängig von der Begabung. Nur mit verstärkter (individueller) Förderung und Betreuung der Kinder kann ein langfristiger Ausgleich der unterschiedlichen Startvoraussetzungen geschaffen werden. Dafür brauchen sogenannte „Brennpunktschulen“ aber auch mehr finanzielle Mittel um gezielte Fördermaßnahem durchführen zu können.
Gemeinsame Schule der 10- bis 14-Jährigen
Der Rahmen einer ganztägigen Schule, die bedarfsgerecht finanziert wird, ist die Gesamtschule. Die Idee der gemeinsamen Schule beruht auf der Überzeugung, dass es für keinen Jugendlichen zumutbar ist, mit zehn Jahren über den gesamten restlichen Lebensweg zu entscheiden. Diese frühe Form der Selektion ist europaweit nahezu einzigartig und verstärkt soziale Ungleichheiten. Diese Gesamtschule ist eine Chance für alle. Für Kamil, Alexandra und Friedrich: denn jedes Kind hat unterschiedliche Stärken und Schwächen, die es in den Klassenverband einbringen kann und von denen andere Kinder wiederum profitieren. Die Diskussion zur Umstellung des sozial selektiven Schulsystems hin zu einer sozialgerechten Schule ist so alt wie das System selbst.
Schon zu Beginn des letzten Jahrhunderts sprach sich der große österreichische Schulreformer Otto Glöckel gegen die „Monopolisierung der Bildung“ für die Eliten und für eine „Einheitsschule“ aus. Bis heute maßgeblich gegen diese zentralen und notwendigen Reformen stellt sich die ÖVP und die von ihr dominierte LehrerInnengewerkschaft.