Neuerscheinung: Tamara Ehs stellt einige Gedanken aus ihrem Buch Verteidigung der Demokratie vor. Ein Essay über die Versuchungen der Autokratie und die Versprechen der Demokratie. Von Tamara Ehs. Zur PDF-Version.
Der Zustand der Demokratie bereitet Sorge: Das Varieties of Democracy-Institut stellte seinen jüngsten Bericht unter den Titel 25 Years of Autocratization und markiert somit für das 21. Jahrhundert eine Geschichte des demokratischen Niedergangs. Österreich wurde erstmals 2022 vom Ideal einer liberalen Demokratie zu einer „Wahldemokratie“ herabgestuft und hat sich seither nicht verbessert. Ob die Autokratisierung letztlich erfolgreich ist, hängt auch von der Akzeptanz durch die Bürger:innen ab. Sie müssen von den Vorteilen der Demokratie überzeugt sein, um der autoritären Versuchung zu widerstehen, die „Durchregieren“ und schnelle Lösungen verspricht. Immerhin stimmen laut aktuellem Demokratiemonitor 20 Prozent der Aussage sehr oder ziemlich zu, dass es einen starken Führer geben sollte, der sich nicht um Parlament und Wahlen kümmern muss.
Um zu überleben, muss die Demokratie liefern, d.h. ihre Versprechen erfüllen – allen voran Freiheit, Gleichheit und entsprechende Repräsentation der Bürger:innen. Von diesen (gebrochenen) Versprechen erzählen die großen Kundgebungen der vergangenen Jahre – die Demokratie verteidigen-Demonstrationen sowie die Coronamaßnahmenproteste – und zeigen dabei Baustellen auf, derer sich die neue Bundesregierung annehmen muss.
Demokratieverteidigung auf der Straße
21 Soziologen von der Universität Konstanz untersuchten mittels Teilnehmerbefragung dreier Demokratie verteidigen-Demos 2024, wer eigentlich für die Demokratie protestiert. Sie fanden heraus, dass sich die meisten Demonstrierenden der oberen Mittelschicht zugehörig fühlten, politisch mitte-links verorteten und überdurchschnittlich hohe Bildungsabschlüsse besaßen. Doch auch in anderen Wähler- und Gesellschaftsschichten gibt es Menschen, aus deren Sicht die Demokratie in Gefahr ist. Nicht wenige meinen, die Demokratie verteidigen zu müssen, weil sie von „linken Eliten“ in Politik, Wissenschaft und Medien unterwandert würde. So forderten die Teilnehmer:innen der Coronamaßnahmenproteste demokratische Grundfreiheiten wie Versammlungsrecht und Meinungsfreiheit ein, waren gemäß Studie von Jakob-Moritz Eberl und Noëlle Lebernegg aber zugleich überwiegend rechts, wissenschaftsfeindlich und esoterisch zu verorten. Vergleicht man beide Demonstrationen, prallen nicht nur unterschiedliche Wahlpräferenzen der Teilnehmenden, sondern auch Demokratiekonzepte aufeinander. Während die einen auf eine rechtstaatlich eingebettete, liberale Demokratie abzielen, betonen die anderen individuelle Freiheiten. Das Narrativ der Demokratieverteidigung wirkt allerorts, meint aber je Unterschiedliches und nicht selten Gegensätzliches.
Versprechen: Freiheit
Während der Coronapandemie wurden zahlreiche Freiheitsrechte eingeschränkt, was bis heute nicht nur gesellschaftliche Gräben, sondern populistisch verwertbares Misstrauen in den Staat nach sich zieht. Laut Akademie der Wissenschaften sind 13 Prozent der Meinung, sie bräuchten weder Staat noch Regierung. Caroline Amlinger und Oliver Nachtwey sprechen von „libertären Autoritären“, die gegen die „Rückkehr des intervenierenden Staates“ rebellierten. Jene gekränkte Freiheit, so der Titel ihrer Analyse, sei ein Gefühl der Ohnmacht, das aus dem nicht erfüllten zweiten Versprechen der Demokratie – Gleichheit – resultiere.
Denn prekäre Beschäftigungsverhältnisse, steigende sozioökonomische Ungleichheit, Entwertung von Qualifikationen und zuletzt Inflation und Rezession, die Ersparnisse und damit verbundene Hoffnungen und Lebenspläne verringerten oder gar zunichtemachten, erzeugten nicht nur soziale Kränkungen, sondern verunmöglichten es, den allgemeinen und verinnerlichten Ansprüchen gerecht zu werden. Außerdem werden diese Gefühle kaum mehr von der Mitgliedschaft in Parteien oder Gewerkschaften kollektiv aufgefangen, die das individuelle Versagen gesellschaftlich verorten und somit psychische Entlastung bieten könnten. Jene Kränkungen reagieren auf das Schutz- und Sicherheitsversprechen des Staates, das eben nicht nur kalte Freiheitsrechte, sondern für deren Ausübung auch Gleichheit gewährleisten sollte.
Versprechen: Gleichheit
Das Gleichheitsversprechen besteht darin, dass alle Bürger:innen vor dem Gesetz und in der politischen Teilhabe gleich sind und jede Stimme gleich viel zählt, egal wie hoch Bildungsabschluss, Einkommen oder Vermögen sind. Gleichheit und gleiche Responsivität des politischen Systems waren historisch gesehen zwar noch nie vollkommen erfüllt, zuletzt entfernt sich der Istzustand jedoch wieder zusehends von jenem Ideal, das die Demokratie im Ansehen der Bürger:innen als die beste Staatsform ausmacht. Die Demokratie hält ihre Versprechen für manche besser als für andere.
Eine Studie von Susan Stokes und Eli G. Rau mit 23 Staaten, die in den Jahren 1995 bis 2020 Rückschritte in der Demokratie oder gar Autokratisierung zu verzeichnen hatten, stellte fest, dass wirtschaftliche Ungleichheit eine der stärksten Vorhersagevariablen dafür ist, wo und wann Demokratien erodieren. Diese Entwicklung betrifft auch Österreich. Der Demokratiemonitor 2024 verdeutlichte abermals, dass sich die allgemeine Zufriedenheit mit dem politischen System nach den Krisenjahren wieder erholt, allerdings nur bei den Menschen im oberen und im mittleren Einkommensdrittel. Im unteren Drittel denken nur mehr 21 Prozent, dass das politische System gut funktioniere. Zwei Gründe hält die Studienautorin Martina Zandonella fest: Erstens sei das untere Drittel sowohl von den Folgen der Pandemie als auch von den Preissteigerungen am stärksten betroffen. Zweitens seien Erfahrungen mangelnder Repräsentation im unteren Drittel, wo wenig Ressourcen, niedriger sozialer Status und geringe gesellschaftliche Anerkennung zusammentreffen, am weitesten verbreitet. So denken derzeit 56 Prozent der Menschen im oberen und 41 Prozent im mittleren Drittel, dass sie im Parlament gut vertreten sind – im unteren Drittel sind es hingegen nur 19 Prozent.
Hier, bei Fragen von Ungleichheit, Ungerechtigkeit und damit verbundenen Einschränkungen von individuellen Freiheits- und Selbstverwirklichungsansprüchen findet der autoritäre Populismus einen Anknüpfungspunkt. Laut Armin Schäfer und Michael Zürn verfängt Populismus, weil er reale Repräsentationsdefizite anspricht. Deshalb bedarf die Verteidigung der Demokratie nicht nur einer Kritik der Populisten, sondern muss bei den gebrochenen Versprechen auf Gleichheit und Freiheit ansetzen.
Repräsentationsdefizite
Mittlerweile ist u.a. von Denise Traber auch für Österreich empirisch belegt, dass sich politische Entscheidungen an den Wohlhabenden orientieren und die politischen Präferenzen der sozial Schlechtergestellten nur dann erfüllt werden, wenn sie mit den Präferenzen der Bessergestellten ident sind. Somit stellt Ungleichheit für die politisch Unterrepräsentierten den Beweis dar, dass die Demokratie nicht hinreichend funktioniere. Hinzu kommt, dass die Allerreichsten nicht auf ihre Stimme bei Wahlen oder auf kollektive Interessenvertretung, also nicht auf wesentliche demokratische Aushandlungsmechanismen angewiesen sind. Denn sie pflegen engen persönlichen Kontakt zu Politiker:innen und nutzen ihr Vermögen, um Kandidat:innen, Parteien, Wahlkämpfe oder meinungsbildende Medien zu finanzieren beziehungsweise zu kaufen. Die Demokratie ist zugunsten ressourcenstärkerer Gruppen verzerrt.
Die Krise der Repräsentation kann unter der Bevölkerung in fundamentalen Skeptizismus umschlagen, der die parlamentarische Demokratie als solche infrage stellt. Dies trifft in hohem Maße auf das politische Bewusstsein von Menschen zu, die von der Krisenkaskade der vergangenen Jahre und ihrer politischen Bearbeitung besonders betroffen sind. „Die Skandalisierung gebrochener Versprechen und verletzter Ansprüche – und nicht ideologische Positionierungen oder kulturelle Abgrenzung“ stünden laut der Studie Verletzte Ansprüche im Zentrum. Doch diese Kritik sei politisch zunehmend marginalisiert, in der Sozialdemokratie mitunter heimatlos geworden. Populistische und insbesondere rechtsautoritäre Parteien greifen dieses Repräsentationsdefizit auf. Der Erwachsenenbildner Hakan Gürses beschreibt ihre Strategie als „Simulation des Klassenkampfes.“ Parteien wie die FPÖ stellen zwar kein Klassen-, aber immerhin ein Nationalbewusstsein her und bieten Anknüpfungspunkte für das Unrechtsbewusstsein einer ehemals vor allem sozialdemokratisch verorteten Arbeiterkritik.
Forderungen
Armutsgefährdung und Zukunftsängste sowie das Gefühl mangelnder Repräsentation führen in Teilen der Bevölkerung zur Entfremdung vom politischen System. Die Verteidigung der Demokratie besteht deshalb darin, die Repräsentationsdefizite zu beheben und der Demokratie ein kluges Update zu verschaffen, sodass sie ihre Versprechen von Freiheit und Gleichheit wieder für die breite Bevölkerung erfüllen kann. Dazu zählen
- Maßnahmen gegen sozioökonomische Ungleichheit, z.B. durch höhere Besteuerung von Vermögen und sozialpolitische Eingriffe zur Rückverteilung;
- Maßnahmen gegen die Verzerrung der Demokratie zugunsten ressourcenstarker Gruppen, z.B. durch weitere Begrenzung von Parteispenden sowie im Bereich der Medienfinanzierung;
- Steigerung der deskriptiven Repräsentation innerhalb der Parteien, z.B. durch reservierte Listenplätze für Arbeiter:innen und prekär Beschäftigte;
- Steigerung der Responsivität des politischen Systems, z.B. durch die Institutionalisierung von Bürgerräten (siehe https://jbi.or.at/buergerraete/).
Zum Weiterlesen
- Amlinger, Carolin; Nachtwey, Oliver (2022): Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus, Berlin.
- Beck, Linda; Westheuser, Linus (2022): Verletzte Ansprüche. Zur Grammatik des politischen Bewusstseins von ArbeiterInnen, Berlin. Journal für Soziologie 32/2022, S. 279–316. Online unter: https://link.springer.com/article/10.1007/s11609-022-00470-0
- Bitschnau, Marco; Koos, Sebastian (2024): Die schweigende Mehrheit auf der Straße? Ergebnisse einer Befragung von Teilnehmer:innen an den Protesten gegen Rechtsextremismus, Policy Paper Nr. 15. Online unter: https://www.econstor.eu/bitstream/10419/289489/1/1884732801.pdf
- Bogner, Alexander (2023): Nach Corona. Reflexionen für zukünftige Krisen. Ergebnisse aus dem Corona-Aufarbeitungsprozess, Wien.
- Eberl, Jakob-Moritz; Lebernegg, Noëlle (2021): Corona-Demonstrant*innen: Rechts, wissenschaftsfeindlich und esoterisch, Austrian Corona Panel Project (ACPP), Blogeintrag 138. Online unter: https://viecer.univie.ac.at/corona-blog/corona-blog-beitraege/blog138/
- Ehs, Tamara (2025): Verteidigung der Demokratie. Ein Essay über die Versuchungen der Autokratie und die Versprechen der Demokratie, Wien. Online unter: https://shop.oegbverlag.at/verteidigung-der-demokratie-9783990467435
- Lindberg, Staffan I. et al. (2025): Democracy Report 2025: 25 Years of Autocratization – Democracy Trumped? Göteborg.
- Lührmann, Anna; Tannenberg, Marcus; Lindberg, Staffan (2018): Regimes of the World (RoW): Opening New Avenues for the Comparative Study of Political Regimes, in Politics and Governance 6(1), S. 60-77. Online unter: https://doi.org/10.17645/pag.v6i1.1214
- Rau, Eli G.; Stokes, Suan (2025): Income inequality and the erosion of democracy in the twenty-first century, in PNAS 122(1). Online unter: https://www.pnas.org/doi/10.1073/pnas.2422543121
- Schäfer, Armin; Zürn, Michael (2021): Die demokratische Regression, Berlin.
- Traber, Denise et al. (2022): Social status, political priorities and unequal representation, in European Journal of Political Research 61, S. 351–373. Online unter: https://ejpr.onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/1475-6765.12456
- Zandonella, Martina (2024): Demokratie Monitor 2024, Wien. Online unter: https://www.demokratiemonitor.at/