von Prof. Michael R. Krätke, In: Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft Nr. 05/2013
Ein Oktoberabend im Krisenjahr 1930. Die Berliner Sozialdemokraten, die Jungsozialisten strömten in Massen in den Sportpalast, um Otto Bauer zu hören. Bauer, der charismatische Führer der österreichischen Sozialdemokratie, der führende Kopf der Sozialistischen Arbeiterinternationale, der vielgelesene Autor, hielt einen Vortrag über die „Langen Wellen”. Er erklärte seinen überwiegend jungen Zuhörern, warum die Weltwirtschaftskrise, die im Oktober 1929 begonnen hatte, viel länger dauern und weit schlimmere Verheerungen in der kapitalistischen Weltwirtschaft anrichten werde als alle bisherigen Krisen in der Geschichte des Kapitalismus. [1] Otto Bauer war in der Zeit der Weimarer Republik häufiger Gast in Deutschland. Sein Lehrer Karl Grünberg, erster Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, sorgte für regelmäßige Gastspiele der Austromarxisten. Bauers Parteitagsreden wurden in der deutschen sozialdemokratischen Presse häufig nachgedruckt, seine Schriften wurden gelesen, gelegentlich meldete er sich auch in deutschen Debatten zu Wort, mit oder ohne Einladung des Parteivorstands der SPD. [2]
1931, im Jahr der Bankenkräche und der weltweiten Kreditkrise, erschien Otto Bauers Buch über die Rationalisierung und Fehlrationalisierung, der erste Band seiner groß angelegten Studie über die Strukturveränderungen im Kapitalismus nach dem I. Weltkrieg, mit der er Hilferdings „Finanzkapital“ fortsetzen wollte. Es war die erste systematische Studie eines Marxisten über die damals neuen und vieldiskutierten Phänomene der betrieblichen Rationalisierung, über Taylorismus, Fordismus und die Umwälzungen in der kapitalistischen „Betriebsweise“, die mit der zweiten industriellen Revolution einhergingen. [3] Das neue Buch Bauers wurde in Deutschland breit diskutiert. Vor allem weil er darin zum ersten Mal andeutete, die Politik der nachholenden, forcierten Industrialisierung in der Sowjetunion, der erste Fünfjahrplan könne Erfolg haben.
Otto Bauer war ein glänzender Redner, der auf allen Parteitagen der österreichischen Sozialdemokratie, auf allen Kongressen der Sozialistischen Arbeiterinternationale und auf vielen Gewerkschaftskongressen sprach. Wenn Bauer sprach, füllte sich der Saal, wurde es still, ihm hörte man gespannt zu. Ohne Parteiämter, mit der Kraft seines Intellekts, als öffentlicher Intellektueller und Parlamentarier, redend, schreibend, in der „Arbeiter-Zeitung“, im „Kampf“ (nach Kautskys „Neuer Zeit“ die wichtigste Theoriezeitschrift des europäischen Sozialismus), dominierte er die Politik der Sozialdemokratie in Österreich und der Internationale. Bauer war die überragende politische Figur der ersten Republik, im Parlament wie in der Tagespresse (er schrieb fast jeden Tag einen Artikel für die „Arbeiter-Zeitung“) ständig präsent. [4] Zugleich war er ein Gelehrter, ein Wissenschaftler von hohem Rang, als Historiker, als Ökonom, als Soziologe und Politikwissenschaftler ebenso beschlagen, ebenso ideenreich wie als Philosoph. Kein Wunder, dass das bürgerliche Lager ihn als gefährlichsten aller Sozialdemokraten und die Kommunisten ihn als den gefährlichsten aller Revisionisten hassten und fürchteten. [5]
Als der junge, unbekannte Otto Bauer dem berühmten Altmeister Karl Kautsky bescheiden seinen ersten Aufsatz für die „Neue Zeit“ anbot, einen Artikel über „Marx‘ Theorie der Wirtschaftskrisen“, erkannte der sein außergewöhnliches Talent. „So stelle ich mir den jungen Marx vor”, sagte er zu Friedrich Adler. Bauer hätte diesen Vergleich nie akzeptiert. Er sah sich als Schüler und Erbe von Marx und Engels, bemüht, ihr Forschungsprogramm weiter zu verfolgen, ihre Forschungsmethode auf immer neuen Gebieten zu erproben, ihre Einsichten durch neue Erkenntnisse zu ergänzen. Ein Dogmatiker war er nie, ein „Marxismus“, der sich nur mit Marx bzw. mit sich selbst beschäftigte, lag ihm nicht.
Bauers erstes grosses Buch behandelte das Problem der Nation, des Nationalstaats und des Nationalismus, unausweichlich im Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn. Wie war es zu erklären, dass die Arbeiter, auch die Sozialdemokraten, nicht nur patriotisch, sondern direkt national dachten und fühlten? Mit der „Nationalitätenfrage“, einem Buch von 573 Seiten, in knapp zehn Monaten niedergeschrieben, gab Bauer 1907 eine gut marxistische Antwort auf die Frage nach der Nation und dem Nationalcharakter. Gut marxistisch hieß – mit genauer Kenntnis der historischen Fakten, die Einsichten der zeitgenössischen Sozialwissenschaften (z.B. Toennies‘, Simmels oder Max Webers) aufnehmend – ökonomische, politische, kulturelle Entwicklungen in ihren Verknüpfungen und Zusammenhängen zu verfolgen, um das zugleich politische und kulturelle Phänomen der Nation zu erklären. Nationen, National-Charaktere undnationale Bewegungen werden von Bauer als Formen kollektiver Identitätsbildung in ihren historischen Entstehungs- und Wirkungszusammenhang gestellt, einen hochkomplexen Zusammenhang, in dem die Bildung der modernen Staaten und Staatensysteme ebenso eine Rolle spielt wie die Verwandlung „traditioneller“ in „moderne“ Klassengesellschaften. Dieses Buch machte den sechsundzwanzigjähren Bauer mit einem Schlag berühmt; bis heute ist es ein Klassiker der Sozialwissenschaften wie des (Austro)Marxismus. [6]
Otto Bauer ist nicht der Mann eines Buchs (wie Rudolf Hilferding mit dem „Finanzkapital“), sondern vieler Bücher. Mindestens sieben davon werden heute als Meisterwerke der historischen, ökonomischen und politischen Analyse betrachtet, die in jedem Kanon des klassischen Marxismus einen zentralen Platz einnehmen: nach der „Nationalitätenfrage“ von 1907 die „Österreichische Revolution“ von 1923, seine Analyse der Klassenkämpfe in Österreich von 1918 bis 1922, aus denen die Erste Republik hervorging. Das Buch gab den Anstoß zu einer langen Kontroverse über die Grundlagen der politischen Theorie, über die marxistische Staatstheorie, über die Analyse und Erklärung politischer (Klassen) Herrschaft in einer Demokratie, an der sich – typisch für den Austromarxismus – auch erklärte Nicht-Marxisten wie der große Rechtstheoretiker Hans Kelsen ganz offen beteiligten. 1924 erschien Bauers Studie über „Das Weltbild des Kapitalismus“, eine kurze der Entstehung und der Wandlungen jener von Naturwissenschaft und Philosophie geprägten „Weltanschauung“ des modernen Bürgertums im Kapitalismus. Er hatte diese Skizze in der Kriegsgefangenschaft niedergeschrieben, sie sollte, ausgebaut, den (ideologietheoretischen) Leitfaden für eine „marxistische Erkenntnistheorie“ (bzw. Wissenschaftslehre) bilden. Es folgte „Der Kampf um Wald und Weide“ von 1925, eine Wirtschaftsgeschichte, in der er die Entstehung der Bauernschaft und sämtlicher agrarischer Eigentums-, Arbeits- und Lebensverhältnisse als eine Geschichte von Klassenkämpfen nachzeichnete. Dann, 1931, die schon genannte Studie über die „Rationalisierung und Fehlrationalisierung“ (Bauers Analyse des Fordismus und Amerikanismus), und sein vorletztes Buch „Zwischen zwei Weltkriegen“ von 1936, seine Analyse der Weltwirtschaftskrise und ihrer politischen Folgen für die Demokratien und für die Arbeiterbewegungen in Europa, von den Krisen der Nachkriegszeit bis zum Sieg des Faschismus. Schließlich die „Illegale Partei“, seine unvollendete Studie über die historische Entwicklung der sozialistischen Parteien, zugleich eine Parteitheorie, die erst postum im Jahre 1939 erschien. [7] Wer will und lesen kann, findet beim marxistischen Sozialdemokraten Otto Bauer alles, was das linke Herz begehrt und den linken Kopf beschäftigt: von der Ideologietheorie über die historische und politische Analyse zur Philosophie und, last but not least, bis hin zur Politischen Ökonomie und ihrer Kritik – auf der Höhe der Zeit und auf der Höhe der zeitgenössischen Philosophie und Sozialwissenschaft.
Wie Rosa Luxemburg hat auch Otto Bauer viele Jahre an Parteischulen der Sozialdemokratie politische Ökonomie gelehrt. Seine „Einführung in die Volkswirtschaftslehre“ beruht auf den Vorlesungen, die er von 1926 bis 1930 an der Arbeiterhochschule in Wien hielt. In diesen Vorträgen schaffte er es, die Marxsche ökonomische Theorie mit den Einsichten der „bürgerlichen“, akademischen Ökonomie zu verknüpfen, und eine marxistische „Markttheorie“ in Grundzügen vorzustellen, also genau jene Analyse der Konkurrenzphänomene, die Marx seinen Schülern überlassen hatte. [8] In seinen Aufsätzen, in seinen Broschüren ging er viele der ungelösten, höchst vertrackten Probleme der Marxschen Politischen Ökonomie an, mutig, ideenreich, intelligent. „Mit Marx über Marx hinaus“ zu gehen, Marx mit Marx zu kritisieren bzw. zu korrigieren, war sein Ehrgeiz. Das gelang ihm immer wieder, zum Verdruss der „marxistischen“ Doktrinäre.
Otto Bauer ist der Theoretiker des demokratischen Sozialismus par excellence. Als guter „Zentrist“, Mann der Mitte, hielt er Distanz zu den Reformisten wie den Radikalen, beide kritisierend. Er war stets bemüht, die Einseitigkeiten, die Übertreibungen der Nur-Reformer wie der Revolutionsenthusiasten historisch-materialistisch, aus den veränderten, sich veränderten, unterschiedlichen Lebens- und Handlungsbedingungen der Arbeiterbewegung zu verschiedenen Zeiten, in unterschiedlichen Ländern und Regionen, in verschiedenen Phasen und Perioden der kapitalistischen Entwicklung zu erklären – zum Ärger der Rechthaber aller Seiten, die Verdammungsurteile, keine Erklärungen haben woll(t)en. Seine politische Theorie muss man anhand seiner scharfen, kunstvollen, von detailgenauer historischer Kenntnis getragenen Analysen der wechselnden politischen Machtverhältnisse in Österreich, in Europa und in der Welt studieren. Sie findet sich in vielen Büchern, Aufsätzen, Vorträgen und Zeitungsartikeln. Bei Bauer (wie bei Marx) [9] kann man ihren harten Kern finden. Der steckt in Bauers Erklärung der „Kapitalsherrschaft in der Demokratie“, der Hegemonie des Bürgertums, dessen „Weltbilder“ die bürgerliche Gesellschaft ebenso in ihrem Bann halten wie die Logik einer kapitalistischen Ökonomie den Gang des Alltagslebens. Kein Sozialdemokrat, der Otto Bauer gelesen hat, dürfte von Wolfgang Streecks jüngsten Befunden über die Brüchigkeit eines „demokratischen Kapitalismus“ sonderlich überrascht oder beeindruckt sein. Kapitalismus und Demokratie passen keineswegs „von Natur aus“ und „ein für allemal“ zusammen. Zu wissen, wie gefährdet und brüchig diese Symbiose ist, zu wissen, dass der moderne Kapitalismus mit allen möglichen politischen Regimes und Staatsformen vereinbar war und ist, diese zugleich komplizierte und elementare Einsicht darf in einer demokratisch sozialistischen Bewegung und Partei nicht verloren gehen.
Detlev Albers hat in einer vergleichenden Studie über Bauer und Gramsci ihre Nähe als politische Theoretiker gezeigt. Dass Gramsci dabei zum Sieger nach Punkten geriet, ist demeurokommunistischen Zeitgeist geschuldet. [10] Denn Antonio Gramsci, heute zum wichtigsten politischen Theoretiker des Marxismus hochstilisiert, kannte von einer funktionierenden politischen Demokratie wenig. Statt fragmentarischer Notizen finden sich bei Bauer zu den gleichen Themen – Parteiformen, Hegemonie, Bildung und Erziehung, Kampf der Klassenkulturen, die Unterschiede der politischen Strategie und Taktik in Russland und in Westeuropa, Stellungskrieg – Bewegungskrieg usw. – ausgearbeitete, durchdachte Analysen. Bauers politische Erfahrungen reichten weit über Gramscis hinaus, in der „Kunst der marxistischen Analyse der politischen Tagessituation“ war er weit überlegen. Allerdings ist es dem nach wie vor grassierenden Leninismus (zu dem auch Gramsci noch gehört) gelungen, Otto Bauer, und mit ihm die Hochblüte des klassischen Marxismus in Wien, in Österreich, in der europäischen Sozialdemokratie, fast vergessen zu machen. [11]
Zu den Standardvorwürfen gegen Bauer gehört die Mär, er sei zwar ein großartiger Theoretiker, aber ein lausiger Praktiker der Politik, ein Zauderer gewesen, ein Dogmatiker, ein „Illusionist” – so kann man in der jüngsten Bauer-Biographie des Salzburger Historikers Ernst Hanisch lesen. [12] Nichts kann falscher sein als dieses Klischee. Wie Richard Saage gezeigt hat, müssen die Anhänger dieses Märchens systematisch alle einschränkenden Rand- und Rahmenbedingungen des politischen Handelns, die Bauer selbst detailliert analysiert hat, ausblenden bzw. zur Ideologie erklären. [13] Niemand hat die taktischen und strategischen Fehler der österreichischen Sozialdemokratie klarer und schärfer analysiert als Bauer selbst, niemand hat sie offener eingeräumt.
In der Tat war Bauer, der demokratische Sozialist und klassische Marxist, kein Lenin. Sondern ein Verantwortungspolitiker, nicht bereit, Hunderttausende oder gar Millionen von Menschenleben den Götzen „Revolution“ oder „Sozialismus“ zu opfern.
Wer den ganzen Bauer kennen lernen will, sollte sein vorletztes Buch lesen: „Zwischen zwei Weltkriegen“, 1935 im Exil geschrieben, 1936 in Bratislava veröffentlicht, ein Buch, das zu seinem Vermächtnis für die internationale Sozialdemokratie wurde [14] Bauer schrieb es in Eile, weil er glaubte, mit seinem großen Werk, der systematischen Analyse des Nachkriegskapitalismus und seiner Krisen, nicht mehr fertig zu werden. Es beginnt mit einer Analyse der Großen Krise der kapitalistischen Weltwirtschaft, tatsächlich eine Kurzfassung der oben schon erwähnten Krisenanalyse. Die politischen und sozialen Folgen dieser Krise, die „Krise der Demokratie“ und „Krise des Sozialismus“ in allen entwickelten kapitalistischen Ländern gipfeln im Sieg des Faschismus. Wie geht es weiter? Gibt es nach dieser Niederlage noch eine Zukunft für die Demokratie, für
die sozialistische Bewegung? Bauer sieht das Ende kommen, den zweiten Weltkrieg, aber dessen Ausgang ist ungewiss. Seine Hoffnung setzt er auf den „integralen Sozialismus“.
Ein Leben lang hatte Bauer für die Einheit der Partei, der Gewerkschaften, der gesamten Arbeiterbewegung gestritten. Nach der Katastrophe hoffte er auf die Überwindung der verhängnisvollen Spaltung – und prägt dafür die Formel vom „integralen Sozialismus“. Gemeint war eine Annäherung von beiden Seiten: Radikalisierung der Sozialdemokratie im Kampf gegen die faschistischen Diktaturen und Demokratisierung der Sowjetunion. Aber diese Hoffnung Bauers ist mit dem Scheitern
von Gorbatschows Versuch einer Reform von oben (wie Bauer sie vorhergesehen hatte) tot und begraben. Man kann diese zeitgebundene Formel aber auch anders lesen. Integraler Sozialismus wäre der Versuch, die Strömungen der internationalen Arbeiterbewegung politisch (nicht notwendigerweise organisatorisch) zusammen zu führen – im Sinne des „demokratischen Weges“ zum „demokratischen Sozialismus“, den Bauer stets verfochten hat, im Geiste jener Sozialistischen Internationale (der SAI), deren Kopf und Stimme er einige Jahre lang war. [15]
Quellen:
[1] So berichtet es Albert O. Hirschman, der als junger Gymnasiast in Berlin Otto Bauer zuhörte. Ein Erlebnis, das seinen weiteren Lebensweg entscheidend beeinflusste. Noch fünfzig Jahre später war er von Bauers Vortrag im Sportpalast tief beeindruckt. Zum ersten Mal begriff er, was sozialistische Theorie, was marxistische Analyse, was politische Ökonomie war, zum ersten Mal traf er einen marxistischen Intellektuellen als Parteiführer, dessen Charisma und intellektuelle Brillanz alle in seinen Bann schlug (vgl. Jeremy Adelman, Worldly Philospher. The Odyssey of Albert O. Hirschman, Princeton – Oxford: Princeton University Press 2013, S. 66f).
[2] Vgl. zum Einfluss Otto Bauers und der Austromarxisten auf die deutsche Sozialdemokratie: Franz Walter / Michael Scholing / Gerd Storm, Die Bedeutung Otto Bauers für die deutsche Sozialdemokratie, in: Detlev Albers, Horst Heimann und Richard Saage (Hrsg), Otto Bauer: Theorie und Politik, Berlin 1985.
[3] Der vollständige Titel lautete: Kapitalismus und Sozialismus nach dem Weltkrieg. Erster Band: Rationalisierung – Fehlrationalisierung, der Text des Buches ist wieder abgedruckt in Otto Bauer Werkausgabe, Bd. 3, Wien 1976, S. 719 – 914.
[4] Eine Auswahl seiner Parlamentsreden erschien 1968 unter dem Titel „Zum Wort gemeldet: Otto Bauer“, eingeleitet und herausgegeben von Heinz Fischer, dem jetzigen Bundespräsidenten der Republik Österreich.
[5] Was die Leninisten, Trotzkisten, Stalinisten aller Spielarten betrifft, so hat sich der Hass gegen den Austromarxismus im allgemeinen und gegen Otto Bauer im besonderen bis heute gehalten.
[6] Es ist das einzige der vielen Bücher Otto Bauers, das, wenn auch sehr spät, in mehrere Sprachen übersetzt wurde (Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch). Kautsky und Bauer stritten sich höflich, aber bestimmt in der „Neuen Zeit“ über den richtigen Begriff der Nation. Keine der späteren „marxistischen“ Äußerungen zum Thema, allesamt Kampfschriften gegen Bauer, reicht auch nur ansatzweise an das analytische Niveau und die sprachliche Kraft dieses Bauerschen Erstlings heran. Lenin, Trotzki, Stalin usw. greifen in ihrer (um mit Marx zu sprechen) „brutalen Interessiertheit“ an politisch verwertbaren Parolen sofort zur bestreitbarsten Folgerung aus dem „Selbstbestimmungsrecht der Nationen“, nämlich dem Recht auf staatliche Eigenständigkeit.
[7] Alle genannten Texte sind in der 9-bändigen Otto Bauer Werkausgabe vollständig wieder abgedruckt worden. In der Reihe fehlt ein weiteres Meisterwerk Otto Bauers, seine fast vollendete Darstellung und Analyse der Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1933, geschrieben zwischen 1932 und 1934. Das Manuskript blieb erhalten und wird demnächst vollständig im VSA Verlag veröffentlicht.
[8] Bauer hat z.B. mit „Die Teuerung“ von 1910 eine der ersten Analysen der internationalen Inflation in der Epoche des Goldstandards vorgelegt und damit den Anstoß zur ersten großen geldtheoretischen Debatte unter den Marxisten gegeben. Großen Einfluss hatte seine Luxemburg-Kritik von 1913, ein langer Aufsatz über die Theorie der Akkumulation bei Marx und Luxemburgs Kritik daran, der in der „Neuen Zeit“ erschien. Bis heute gilt dieser Text als Pionierarbeit, als eines der ersten Beispiele der modellmäßigen Behandlung eines Zentralproblems jeder makroökonomischen Analyse.
[9] Das übliche Gejammere, Karl Marx (oder jemand anders) habe aber „keine Staatstheorie“ (oder keine Theorie von diesem oder jenem) hinterlassen, ist eine akademische Marotte, die mittlerweile zur Unsitte geworden ist.
[10] Vgl. Detlev Albers, Versuch über Bauer und Gramsci, Hamburg 1983.
[11] Tatsächlich gab es Männer von vergleichbarem Format auch in der russischen Sozialdemokratie, allen voran der geniale Alexander Bogdanov, der wie Bauer ein Multitalent, ein Polyhistor war, zugleich als politischer Ökonom, als Philosoph, als Naturforscher (er war Mediziner) aktiv. Lenin bekämpfte diesen Rivalen wütend, sein schaurigstes Pamphlet „Materialismus und Empiriokritizismus“, das die Leninisten bis heute für marxistische Philosophie halten, ist direkt gegen Bogdanov gerichtet. Bogdanovs höfliche, aber bestimmte, in der Sache vernichtende Antwort, Vely y nauka (Wahrheit und Wissenschaft) ist nie übersetzt worden, daher bis heute nur wenigen Spezialisten bekannt. Wer russisch las, wusste schon 1910, dass es mit dem Theoretiker Lenin nicht weit her war.
[12] Vgl. Ernst Hanisch, Der grosse Illusionist. Otto Bauer (1881 – 1938), Wien – Köln – Weimar 2011.
[13] Vgl. Richard Saage, Restriktionsanalysen Otto Bauers am Beispiel der ersten österreichischen Republik, in: Detlev Albers, Horst Heimann, Richard Saage (Hrsg), Otto Bauer: Theorie und Politik, Berlin 1985.
[14] Es wurde seither nie wieder neu aufgelegt. Im Band 4 der Otto Bauer Werkausgabe ist es wieder abgedruckt. Es gibt eine italienische Übersetzung aus dem Jahre 1979. Die erste englische dieses Klassikers des internationalen Sozialismus erscheint erst jetzt, herausgegeben von John E. King und Michael R. Krätke.
[15] Die Versuche einiger SPD-Vordenker, dem „demokratischen Sozialismus“ mit der„sozialen Demokratie“ aus dem Weg zu gehen, hätten einen Mann wie Bauer kaum beeindruckt. Schliesslich stammt die analytische Unterscheidung zwischen politischer, wirtschaftlicher und sozialer Demokratie ebenso wie die Begründung ihres Zusammenhangs von den Austromarxisten.