Einkommen und Herkunft prägen den Zugang zur Mitbestimmung, doch viele sind vom Wahlrecht ausgeschlossen oder beteiligen sich kaum. Von Martina Zandonella. Zur PDF-Version.
Auch in Österreich häufen sich besorgniserregende Entwicklungen: Die Unzufriedenheit mit den repräsentativen Institutionen hat in den vergangenen Jahren zugenommen und in Teilen der Bevölkerung hat sich der Eindruck verfestigt, dass die eigenen Lebensumstände durch politische Beteiligung nicht mehr positiv verändert werden können. Verstärkt Zuspruch erhalten wiederum Parteien und Politiker:innen, die einfache Lösungen für komplexe Probleme anbieten. Die Analysen zu diesen Entwicklungen füllen inzwischen Regale, der Blick „von unten“ erhält dabei jedoch wenig Aufmerksamkeit:
Mitbestimmung ist eine Frage der Klassenzugehörigkeit
Fragen wir die Menschen, was Demokratie für sie ausmacht, stehen Gleichheit und Mitbestimmung ganz oben auf der Liste. Egal wer man ist, woher man kommt oder was man besitzt: Jede:r hat eine Stimme und kann mit dieser im gleichen Ausmaß wie alle anderen die uns gemeinsam betreffenden Lebensumstände mitgestalten. Gerade entlang dieses zentralen, mit der demokratischen Idee einhergehenden Versprechens haben die Schieflagen zuletzt jedoch wieder zugenommen. So waren zu Beginn der 1980er Jahre rund 5 % der Bevölkerung ab 16 Jahren aufgrund ihrer ausländischen Staatsbürgerschaften nicht wahlberechtigt, bei der Nationalratswahl im Herbst 2024 galt dies bereits für mehr als ein Fünftel und bei der Wiener Landtags- und Gemeinderatswahl im Frühjahr 2025 durfte sogar mehr als jede:r Dritte nicht wählen.
Dieser Ausschluss von der politisch wirksamsten Form der Mitbestimmung ist über die Bevölkerung hinweg nicht gleich verteilt – betroffen sind in erster Linie Arbeiter:innen und Dienstleister:innen in Berufen mit niedrigem Einkommen und geringer gesellschaftlicher Anerkennung. Österreichweit haben beispielsweise 66 % der Reinigungskräfte, 60 % der Beschäftigten in Gastronomie und Tourismus oder auch 41 % der Beschäftigten in der Nahrungsmittel herstellung kein Wahlrecht. Für sie ist die österreichische Staatsbürgerschaft – und damit das Wahlrecht – aufgrund der finanziellen Voraussetzungen häufig nicht leistbar.
Ähnlich klassenspezifisch verlaufen die Grenzen auch innerhalb der Berechtigten: An der Nationalratswahl 2024 nicht teilgenommen haben 12 % der Wahlberechtigten im oberen, jedoch 39 % der Wahlberechtigten im unteren Einkommensdrittel. Dabei sind Wahlen eine vergleichsweise niederschwellige Partizipationsform – der Beteiligungsspalt fällt wesentlich größer aus, wenn es um die Mitarbeit in Bürgerinitiativen oder politischen Parteien geht. Damit ist also nicht nur der Zugang zu Beteiligungsrechten, sondern auch die Beteiligung selbst eine Frage der Klassenzugehörigkeit.
Ökonomische Ungleichheit = politische Ungleichheit
Inzwischen stammt nicht nur die Mehrzahl der Nicht-Wahlberechtigten, sondern auch jene der Nichtwähler:innen aus dem unteren Einkommensdrittel. Bei Letzteren haben dabei zahlreiche Erfahrungen von Ausschluss – von finanzieller Sicherheit, guter Arbeit, gesellschaftlicher Anerkennung und wirksamer Mitbestimmung – das Vertrauen in die Demokratie untergraben. Ausdruck finden diese Erfahrungen beispielsweise in Berichten, von der Politik als Menschen zweiter Klasse behandelt zu werden.
Daran anschließend denkt derzeit auch nur mehr rund ein Fünftel der Menschen im unteren Einkommensdrittel, dass unser politisches System gut funktioniert und ebenso wenige sehen sich im Parlament gut vertreten. Kontinuierliche Erfahrungen von Ungleichwertigkeit und Ausschluss schlagen sich zudem in der politischen Selbstwirksamkeit nieder: Im unteren Einkommensdrittel ist nur mehr eine Minderheit davon überzeugt, mit politischer Beteiligung etwas bewirken zu können. Diese berichtete Repräsentationslücke ist dabei weit mehr als ein subjektiver Eindruck: Die politik- und sozialwissenschaftliche Forschung hat inzwischen mehrfach – unter anderem für Österreich – bestätigt, dass die politischen Anliegen der unteren Einkommensgruppen seltener Teil des politischen Diskurses sind, in den Parlamenten schlechter vertreten werden und dort auch kaum Chance auf Umsetzung haben. Somit sind also auch die Erfahrungen, welche die Menschen mit bzw. als Teil unserer Demokratie machen, klassenspezifisch. Je weiter unten in der gesellschaftlichen Hierarchie sie verortet sind, desto seltener erleben sie politische Gleichheit und wirksame Mitbestimmung. Am oberen Ende hingegen sind die Menschen nicht mehr auf ihre Stimme bei Wahlen angewiesen. Sie haben direkten Kontakt zu politischen Entscheidungsträger:innen, unterstützen Politiker:innen, Parteien und Wahlkämpfe finanziell und können unter anderem über die sich in ihrem Besitz befindlichen Medienkanäle Einfluss auf die öffentliche Meinung nehmen.
Wie stark ökonomische Ungleichheit über die letzten beiden Jahrzehnte hinweg auch in Österreich zugenommen hat, zeigt folgender Vergleich: Haben die Vorstände der im ATX gelisteten Unternehmen vor zwanzig Jahren das 24fache des Medianeinkommens verdient, liegt das Verhältnis inzwischen bei 1:64. Noch einmal ungleicher verteilt als das Einkommen ist bei uns jedoch Vermögen. So besitzt das reichste 1 Prozent mehr als 40 % des Gesamtvermögens, während der gesamten unteren Hälfte gerade einmal 3 % gehören. Die Krisen der vergangenen Jahre haben diese Ungleichheiten weiter befeuert, denn sowohl die finanziellen Folgen der Covid19-Pandemie als auch die Teuerung haben das untere Einkommensdrittel am stärksten getroffen.
Mehr Beteiligung durch klassengerechte Repräsentation
Soll der Zweidritteldemokratie Einhalt geboten werden, ist zunächst der ökonomischen Ungleichheit und den damit einhergehenden Machtkonzentrationen entgegenzuwirken. Hierbei sei in Erinnerung gerufen, dass es keine unsichtbare Hand, sondern einmal getroffene politische Entscheidungen waren, die diese Entwicklungen hervorgebracht haben. In der Umkehrung von Margaret Thatchers berühmtem Slogan gibt es demnach also auch eine – politisch gestaltbare – Alternative. In Hinblick auf die steigende Zahl der Nicht-Berechtigten kann die Entkoppelung des Zugangs zur Staatsbürgerschaft von seinen beträchtlichen finanziellen Voraussetzungen ein erster Schritt sein, um dem systematischen Ausschluss der Arbeiter:innenklassen vom Wahlrecht einzudämmen.
Gerade für die Menschen im unteren Einkommensdrittel gilt es außerdem, in ihren Alltag eingebettete, positive Erfahrungen mit Demokratie und Beteiligung zu ermöglichen – in der Schule, der Ausbildung, bei der Arbeit oder im Stadtteil bzw. der Gemeinde. In diesem Zusammenhang verweisen bereits zahlreiche Forschungsergebnisse darauf, dass positive Mitbestimmungserfahrungen im Betrieb mit einem höheren Vertrauen in das politische System, einer höheren politischen Selbstwirksamkeit und einem geringeren Ausmaß an antidemokratischen Haltungen einhergehen. In diesem Sinne ist gute Betriebsratsarbeit also immer auch Demokratiearbeit.
Auf die bestehende Repräsentationslücke reagierte das etablierte politische System bislang vor allem mit der Schaffung von neuen, rechtlich zumeist unverbindlichen Beteiligungsangeboten. Dies ist grundsätzlich zu begrüßen, vergrößert jedoch häufig den Beteiligungsspalt, da vor allem jene Bürger:innen mitmachen, die bereits politisch aktiv sind. Ein Mehr an Beteiligungsangeboten ist daher kein Ersatz für Beteiligungsrechte und auch keine Alternative zu klassengerechten repräsentativen Strukturen.
In Anbetracht der Wahlerfolge von rechtspopulistischen und rechtsextremen Parteien stehen wir wiederum vor der Herausforderung, extremistisches Gedankengut und demokratiefeindliche Ansinnen zu benennen, ohne gleichzeitig jede:n darunter zu subsummieren, die:der herrschende Machtstrukturen in Frage stellt. Bedingt hilfreich ist es in diesem Zusammenhang auch, jede Wahl zur Rettung der Demokratie zu stilisieren: Wird der Status Quo zum Selbstzweck, verliert die Demokratie ihr Potenzial als Instrument zur Bekämpfung von Ungleichheit.
Zum Weiterlesen
- Elsässer, Lea / Schäfer, Armin (2017): Dem Deutschen Volke? Die ungleiche Responsivität des Bundestags. In: Zeitschrift für Politikwissenschaft 27, 161-180.
- Kiess, Johannes et al. (2023): Arbeitswelt und Demokratie in Ostdeutschland. Erlebte
Handlungsfähigkeit im Betrieb und (anti)demokratische Einstellungen, OBS-Arbeitspapier
64, Frankfurt am Main: Otto Brenner Stiftung. - Lessenich, Stepan (2019): Grenzen der Demokratie. Teilhabe als Verteilungsproblem,
Stuttgart: Reclam. - Möller, Kolja (2024): Volk und Elite. Eine Gesellschaftstheorie des Populismus, Frankfurt
am Main: Suhrkamp. - Zandonella, Martina (2025): Demokratie aus Sicht der Bevölkerung. Zustand, Herausforderung,
Perspektiven. In: AK Kärnten (Hrsg.in): Die Zukunft der Demokratie,
Klagenfurt: ÖGB Verlag. - Zandonella, Martina (2024): Demokratiemonitor 2024, Wien: FORESIGHT. Online
unter: https://www.demokratiemonitor.at/wp-content/uploads/2024/12/2024_FORESIGHT-
Praesentation-Demokratie-Monitor-2024-erste-Ergebnisse.pdf

