„Lebensnahe Forschung“ als Prinzip

Die Themenwahl einer lebensnahen Sozialpsychologie stammt nicht von abstrakten Theorien, sondern aus der Problematik der sozialen Gegenwart. Sie sucht nicht nach zeitunabhängigen Antworten, sondern erkennt die Zeitgebundenheit sozialen Geschehens und menschlichen Verhaltens. Sie will nicht beweisen, sondern entdecken; sie will das Unsichtbare sichtbar machen. Weil im sozialen Geschehen Dinge zählen, die nicht gezählt werden können, sind hier qualitative Methoden ebenso am Platz wie quantitative. Lebensnahe Studien haben ihre Probleme: Nicht nur sind sie mühsamer als Experimente im Laboratorium, sie bringen auch weniger Prestige und werden von manchen Theoretikern als unwissenschaftlich beiseite geschoben. Aber das tritt in den Hintergrund, wenn man einmal die tiefe Befriedigung erlebt hat, die von einer erfolgreichen lebensnahen Studie stammt, weil sie die Möglichkeit bietet, zur Bewältigung der Probleme der Gegenwart beizutragen.“[1]

 

Persönliche Erfahrungen prägen den Forschungsstil

Mit diesen Worten beschreibt Marie Jahoda im Jahr 1994 bei einer Rede ihren Forschungsstil. Von Beginn ihrer wissenschaftlichen Arbeit an hält sie an den Grundsätzen der Lebensnähe und der Anwendung fest. Es geht ihr darum, die reale Welt und ihre Probleme als Herausforderung zu betrachten und mit ihrer Forschung dazu beizutragen, dass diese Welt durch gemeinsame Anstrengung ein wenig lebenswerter gemacht wird.[2] Diese Haltung geht auf ihre biografischen Erfahrungen zurück. Nicht das Interesse an der Wissenschaft und einer wissenschaftlichen Laufbahn ist im Jahr 1926 ausschlaggebend dafür, dass sie ein Studium zu beginnt. Das Studium ist den Plänen für ihre politische Arbeit untergeordnet. Jahoda ist bereits seit den Schuljahren in die sozialdemokratische Bewegung des „Roten Wien“ eingebunden, beteiligt sich sowohl an Aktivitäten der Jugend- und Arbeiterbildung wie auch an Kundgebungen und Demonstrationen.[3] Die politischen Kämpfe der 1920er Jahre durchlebt Jahoda in der Überzeugung, dass ein demokratischer Umbruch ohne Gewalt in Österreich unmittelbar bevorstehe und die Sozialdemokratie aus diesem als gestaltende Kraft hervorgehen würde. Ihre wissenschaftliche Sozialisation stellt sich äußerst vielschichtig dar: Da ist zum einen die Philosophie des Austromarxismus, die sie über Otto Bauer und Max Adler vermittelt bekommt, zum zweiten der Einfluss von Otto Neurath und dem Wiener Kreis mit einer streng empirischen Ausrichtung und zum dritten die akademische Ausbildung am Psychologischen Institut der Universität unter Karl und Charlotte Bühler. Aus dieser heterogenen Mischung heraus bilden sich ihre wissenschaftlichen Grundüberzeugungen heraus: Politische Sensibilität bei der Wahl der Untersuchungsgegenstände und Fragestellungen auf der einen Seite und Betonung des Vorrangs der Tatsachen gegenüber den politischen Anschauungen im Forschungsprozess auf der anderen Seite. Das bedeutet, dass den empirischen Daten stets ein Vorrang gegenüber politisch erwünschten oder erhofften Ergebnissen zukommt. In der ersten größeren Untersuchung, der Studie über die Arbeitslosigkeit in Marienthal, zeigt sich, wie ernsthaft Jahoda mit diesen Grundsätzen umgeht.[4] Aus der Position des traditionellen Marxismus gibt es die Erwartung und Hoffnung, dass das Elend der Massenarbeitslosigkeit die Arbeiterschaft radikalisieren und politisieren würde. Die empirischen Daten zeigen jedoch eine andere Tendenz, nämlich die der Resignation und der Entpolitisierung.

Marie Jahodas Leben ist durch mehrfache Brüche gekennzeichnet. Nach einer Verhaftung im Jahr 1936 durch die Behörden der ständestaatlichen Diktatur muss sie 1937 Österreich verlassen. Sie wird vorerst in London aufgenommen, geht nach dem Krieg in die USA, wo ihre Tochter lebt und 1958 schließlich wiederum nach Großbritannien. In all diesen wechselnden Umständen des Lebens und der wissenschaftlichen Arbeit hält sie daran fest, sich in ihrer Forschung auf aktuelle gesellschaftliche Probleme zu beziehen und dabei auch auf vielfach unbeachtete Wirkungen zu verweisen. So ist sie, um nur ein Beispiel zu nennen, Anfang der 1950er Jahre eine der wenigen Sozialwissenschaftler in den USA, die sich empirisch mit den Folgen der unter dem Namen McCarthyismus bekannten Kampagnen zum Schutz gegen reale und vermeintliche Versuche kommunistischer Unterwanderung beschäftigte.[5] Unter anderem verweist Jahoda dabei kritisch auf die Tatsache, dass Kontrollen und Sicherheitsüberprüfungen bei Personen, die gar nicht Ziel dieser Maßnahmen sind, bemerkenswerte Wirkungen im Sinn von Anpassung bei Meinungsäußerungen oder Selbstzensur zeigen. Dieses Phänomen veranlasste sie, 1959 einen Aufsatz zum Thema Konformität und Unabhängigkeit zu veröffentlichen.[6]Aus diesem Beispiel sehen wir, dass lebensnahe Forschung keineswegs immer politisch erwünschte Forschung darstellt und es fallweise ein hohes Maß an Zivilcourage erfordert, diese Forschung durchzuführen. In dem repressiven US-amerikanischen Meinungsklima der McCarthy-Ära geht Jahoda als politisch verfolgte radikale Sozialistin mit diesen Untersuchungen zweifellos ein hohes Risiko ein.

Realität und Theorie

Der eingangs zitierte Grundsatz lebensnaher Forschung darf nicht als Theoriefeindlichkeit verstanden werden. Jahodas Position ist gut begründet, weil der Theoriebegriff in den Sozialwissenschaften ein anderer wie in den Naturwissenschaften sein muss. In den Theorien der Sozialwissenschaften kann nicht mit kausalen Zusammenhängen gearbeitet werden. Es spricht viel dafür, dass in der sozialen Welt keine absoluten Gesetzmäßigkeiten zu finden sind. Soziales Verhalten, Bedürfnisse, Habitus, alle diese Realitäten des menschlichen Lebens sind nicht universell, sondern mit den jeweiligen Realitäten – den historischen, kulturellen Umständen – der sozialen Welt untrennbar verknüpft. Das ist einer der Gründe, warum wir in den Sozialwissenschaften mit einem relativ schwachen Theoriebegriff leben müssen.

Vor diesem Hintergrund plädiert Marie Jahoda für eine Skepsis gegenüber groß angelegten, abstrakten Theorien. Nicht selten tendieren diese zu einem Dogmatismus, der mit einer partiellen Blindheit gegenüber jenen Teilen der Realität verbunden ist, die sich mit den theoretischen Vorannahmen nicht vereinbaren lassen. Ihre Überzeugung ist, dass es in den Sozialwissenschaften immer darum geht, theoretisches Denken und empirische Daten in ein angemessenes Verhältnis zu setzen. „Für mich sind die Theorien in den Sozialwissenschaften unterentwickelt, und die Versuche, Theorien ohne empirische Grundlage zu etablieren, kommt mir wie der falsche Weg vor. (…) Theoretisches Denken und empirische Forschung sind für mich unzertrennlich.“[7]

Am Beispiel von Robert Merton verweist Jahoda auf die Bedeutung, Konzepte zu bilden und einen approach, einen theoretischen Ansatz zu entwickeln. „Es kommt mir vor, dass sich die Sozialwissenschaften und die einzelnen Wissenschaftler nicht voneinander durch ihre Theorien, sondern am besten durch die fundamentale Grundfrage, die sie interessiert, unterscheiden lassen. Was wollen sie wirklich wissen? Wo liegt der Schwerpunkt ihres Suchens?“[8] Sie erläutert die Unterscheidung an dem Vergleich von Burrhus F. Skinner und Sigmund Freud. Skinner hat sich dafür interessiert, was die Umwelt aus dem Menschen machen kann. Freuds Leidenschaft war dagegen zu entdecken, wie die innere psychologische Welt zustande kommt. Es macht nicht viel Sinn, Skinner und Freud als Theoretiker zu vergleichen; die beiden Grundfragen sind zu verschieden. Jahoda versucht, die sozialwissenschaftlichen Theorien als Versuche zu verstehen, die jeweilige Grundfrage in abstrakter Form darzustellen. Und sie geht davon aus, dass die für eine Antwort erforderlichen Kategorien bereits in den Grundfragen enthalten sind. Und aus ihrer Sicht ist die Grundfrage immer eine empirische Frage.

Das Hauptproblem der Sozialwissenschaften

Was ist nun die Grundfrage von Marie Jahoda? Was will sie „wirklich wissen“? Jahoda will sich weder in der psychologischen, noch in der soziologischen Richtung verlieren.[9] Psychologische Ansätze ignorieren oftmals die soziale Bedingtheit des Psychischen. Und soziologische Konzepte laufen Gefahr, sich nur um die äußeren, sozialen Mechanismen zu kümmern, die das Verhalten beeinflussen. Lebensnahe Forschung anerkennt, dass die Realität des Individuellen untrennbar mit der Realität der sozialen Welt verknüpft ist. „Das Wort Sozialpsychologie ist mir wichtig, weil es in einem Wort ausdrückt, was das Hauptproblem in den Sozialwissenschaften ist, nämlich die soziale Struktur und das Individuum gleichzeitig zu verstehen.“[10]

Quellen

[1] Marie Jahoda; 1994: Rede zur Eröffnung der Marie Jahoda-Gastprofessur an der Ruhr-Universität Bochum am 4. November; unveröff. Manuskript, zit. nach dies.; 1997: „Ich habe die Welt nicht verändert“. Lebenserinnerungen einer Pionierin der Sozialforschung. Hrsgg. Steffani Engler und Brigitte Hasenjürgen. Frankfurt a. M., S. 101.
[2] Vgl. Christian Fleck; 1998: Marie Jahoda (geb. 1907). Lebensnähe der Forschung und Anwendung in der wirklichen Welt. In: Claudia Honegger und Theresa Wobbe (Hrsg.): Frauen in der Soziologie. Neun Portraits. München, S. 258-285, hier S. 285.
[3] Vgl. Christian Fleck; 1989: Politische Emigration und sozialwissenschaftlicher Wissenstransfer. Am Beispiel Marie Jahodas. In: Marie Jahoda: Arbeitslose bei der Arbeit. Die Nachfolgestudie zu „Marienthal“ aus dem Jahr 1938. Hrgg. von Christian Fleck. Frankfurt a. M., S. vii–lxxii, hier S. xx.
[4] Vgl. Marie Jahoda, Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel; 1975: Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit, mit einem Anhang zur Geschichte der Soziographie. Frankfurt a. M.
[5] Vgl. dazu Christian Fleck; 2017:  Marie Jahoda – ein Porträt. In: Marie Jahoda: Lebensgeschichtliche Protokolle der arbeitenden Klassen 1850-1930. Dissertation 1932. Hrsgg. Johann Bacher, Waltraud Kannonier Finster, Meinrad Ziegler. Innsbruck, Wien, Bozen, S. 267-361.
[6] Marie Jahoda; 1994: Wie ist Nonkonformität möglich? In: Dies.: Sozialpsychologie der Politik und Kultur. Ausgewählte Schriften. Hrsgg. und eingeleitet von Christian Fleck. Graz, S. 168–193.
[7] Marie Jahoda; 1997: „Ich habe die Welt nicht verändert“. Lebenserinnerungen einer Pionierin der Sozialforschung. Hrsgg. Steffani Engler und Brigitte Hasenjürgen. Frankfurt a. M., S. 101–169, hier S. 134.
[8] Ebd., 135.
[9] Vgl. Marie Jahoda; 1997: Sozialwissenschaft und soziale Realität. In: Friedrich Stadler (Hrsg.): Bausteine wissenschaftlicher Weltauffassung. Lecture Series/Vorträge des Instituts Wiener Kreis, 1992–1995. Wien, New York, S. 41–53, hier S. 44f.
[10] Jahoda: „Ich habe die Welt nicht verändert“, S. 155.