Das Phänomen des Konformismus

In vielen europäischen Gesellschaften fühlen sich Menschen von globalen Wanderungsbewegungen, von religiösen Extremisten und jüngst auch von einer unkontrolliert sich verbreitenden Corona-Pandemie bedroht. Staaten reagieren und bereiten eine Vielfalt von Maßnahmen zur Abwehr dieser Gefahren vor. Diese sind allerdings häufig mit Einschränkungen der Grundrechte verbunden. Bemerkenswert – und wohl auch erschreckend – ist in diesem Zusammenhang, dass beträchtliche Teile der Bevölkerungen bereit sind, den damit verbundenen Abbau von demokratischen Rechten ohne besondere Bedenken zur Kenntnis zu nehmen.

Gegen Ende der 1940er Jahre hat sich Marie Jahoda unter anderen historischen Rahmenbedingungen mit einem ähnlichen Phänomen beschäftigt. Jahoda lebte und arbeitete in diesen Jahren in New York.1 Jene Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, die wir heute mit dem Begriff des Kalten Krieges zusammenfassen, standen an ihrem Beginn. Ereignisse wie die Machtübernahmen der Kommunistischen Parteien in Mittelosteuropa ab dem Frühjahr 1948, die Blockade Westberlins im Frühsommer 1949, die Zündung der ersten Atombombe durch die Sowjetunion waren einige der historischen Ereignisse, die in den USA eine nahezu panische Angst vor Subversion aufbrechen ließen. Eine Reihe von Sicherheitserlässen ab dem März 1947 dienten der Überprüfung der Loyalität von Personen, die in einer Regierungsstelle beschäftigt waren oder werden sollten. Im weiteren Verlauf von Maßnahmen staatlicher Kontrolle und Repression trat mehr und mehr jene Person in den Vordergrund, die heute mit dieser Phase der US-amerikanischen Nachkriegspolitik in erster Linie verbunden wird, der republikanische Senator Joseph McCarthy.

Sozialpsychologische Konsequenzen

Wie wirkt soziale Kontrolle auf die Atmosphäre und das herrschende Meinungsklima unter den Bundesbeamten? Welche Verhaltensregeln werden in dieser Situation als bindend betrachtet? Wie verändern sich kollegiale und emotionale Beziehungen unter dem Aspekt von Vertrauen und Verdacht? Welche Personen und sozialen Gruppen geraten als erste in Verdacht, die Loyalität zu den staatlichen Institutionen zu verletzten? Das waren die Fragestellungen, mit denen Stuart W. Cook und Marie Jahoda im Jahr 1951 eine explorative Untersuchung mit rund 80 Tiefeninterviews unter höheren Bundesbeamten und Angehörigen verschiedener Universitäten durchführten.2

Viele Befragte berichteten davon, dass sie selbst oder ihre Freunde Lesegewohnheiten umstellten, dass sich die Bücherregale in den Wohnungen veränderten, dass Arbeitskollegen, die in Verdacht geraten waren, empfohlen wurde, sich aus Diskussionen zu kontroversiellen Themen herauszuhalten. Insbesondere Atomenergie, Religion und Rechte der Schwarzen verwandelten sich zu Tabuthemen.

Als wenig vertrauenswürdig oder potenzielle Verräter wurden Angehörige von Gruppen markiert, die bereits in anderen Zusammenhängen häufig marginalisiert wurden, also Juden, Schwarze und Migranten. Darüber hinaus wurden immer wieder solche Personen als verdächtig bezeichnet, die sich freiwillig in Organisationen mit sozialen Zielsetzungen engagierten.

Die Ergebnisse der Untersuchung machten sichtbar, dass die Loyalitäts- und Sicherheitsmaßnahmen der Regierung mit einer Reihe von unbeabsichtigten und problematischen Konsequenzen verbunden waren. Sie förderten in hohem Maße Verhaltensweisen der Anpassung und Unterordnung – teilweise aus einer Haltung panischer Angst vor Unterwanderung durch einen äußeren Feind, teilweise, weil man nicht die Subversion der Sowjetunion, sondern einen inneren Feind fürchtete, nämlich die staatliche Kontrolle und Repression. Beide Reaktionsweisen hätten, so Cook und Jahoda, die großen Traditionen der amerikanischen Demokratie mehr geschwächt als sie bewahrt.3

Jahodas Risiko

Marie Jahoda war eine der wenigen Emigranten und eine der ersten Sozialwissenschaftlerinnen, die mit den Mitteln der Sozialforschung versuchten, auf demokratiepolitische Folgen des McCarthyismus hinzuweisen. Welches Risiko sie damit eingegangen ist, muss im Zusammenhang mit ihrer biografischen Vorgeschichte in Wien beurteilt werden. Als Mitglied der im Untergrund arbeitenden „Revolutionären Sozialisten“ Österreichs stand sie in den 1930er Jahren in manchen politischen Fragen wenigstens so weit links wie viele Angehörige von kommunistischen Parteien. Nur wenige amerikanische Intellektuelle meldeten sich damals öffentlich zu Wort und verteidigten die Redefreiheit. Sie waren selbst kaum in Gefahr, einer Sympathie zum Kommunismus beschuldigt zu werden. Bei Jahoda war das anders. Ihre damaligen revolutionären Aktivitäten hätten es leicht gemacht, sie als illoyal und verdächtig zu beschuldigen. Die kritischen Stellungnahmen zu den Maßnahmen der Regierung verweisen auf ihre Bereitschaft, ein hohes Risiko für ihre demokratischen Überzeugungen auf sich zu nehmen.

Die hier skizzierte Untersuchung darüber, wie höhere Beamte und Akademiker auf die staatliche Kontrolle im Zusammenhang mit Fragen der inneren Sicherheit reagieren, war deskriptiv ausgerichtet. Sie war als Vorstudie für ein umfassendes Projekt gedacht, mit dem die Entstehung von politischer Konformität aber auch von Widerstandskraft in sozialen Gruppierungen wie Lehrerausschüssen oder Gewerkschaften systematisch analysiert werden sollte. Dieses Projekt kam nicht zustande. Eine Diskussion zentraler theoretischer Konzepte dieses Projektes findet sich aber in einem Text, den Jahoda einige Jahre später unter dem Titel „Konformität und Unabhängigkeit“ publizierte.4 Die dort entwickelten begrifflichen Klärungen können für aktuelle Debatten zum Thema Konformität und Widerständigkeit anregend sein.

Wie ist Nonkonformität möglich?

Zentrale soziale Bedingung dafür, dass Nonkonformität – also das öffentliche Vertreten einer Position, die von der Meinung der Mehrheit abweicht – möglich wird, ist eine emotionale und intellektuelle Investition für jene Sache, zu der es sich zu verhalten gilt. Eine kritische Meinung zu haben, ist noch keine unabhängige Handlung. Jahoda spricht von Nonkonformität dann, wenn eine Person eine bestimmte Angelegenheit des öffentlichen Lebens so ernst nimmt, dass sie mit ihrem Handeln auch bereit ist, soziale Beziehungen oder die berufliche Stellung zu riskieren. Ein solches Engagement gründet nicht nur auf dem Verstand und geht über die Bekundung einer Meinung hinaus. Es betrifft das ganze persönliche Ich und an ihm sind intensive emotionale Kräfte und Konflikte beteiligt.5 Ein naheliegendes aktuelles Beispiel für Nonkonformismus wäre etwa die Weigerung, sich bei einer konkreten politischen Entscheidung der Unsitte des Klubzwanges zu unterwerfen, die in unserem demokratischen System tief verankert ist.

Jahodas Definition eignet sich gut dafür, soziologische Analysen zum Phänomen des Konformismus zu schärfen. Eine These, dass sich Konformität im öffentlichen Leben einer Gesellschaft oder in der Kultur einer Institution zunehmend ausbreite, ist allgemein und pauschalierend. Sie könnte auf Basis von Jahodas Definition sehr viel präziser formuliert werden: Es könnte sein, dass die Angehörigen einer sozialen Einheit die Fähigkeit verloren haben, in deren öffentliche oder kulturelle Anliegen zu investieren. Ihnen sind vielleicht privates Wohlgefühl, oder ihr Ruf als Personen, die „keine Schwierigkeiten machen“, wichtiger. Denkbar ist also, dass sich die Anliegen, in die investiert wird, wesentlich verändert haben. Diese Thesen können konkret diskutiert und empirisch überprüft werden. Allerdings wäre bei einem solchen Unternehmen zu bedenken, dass die meisten Menschen ihre emotionalen und intellektuellen Energien auf mehr als eine Sache verteilen und dabei ziemlich vielfältig vorgehen. Es bieten sich viele Objekte für Investitionen an, materielle Dinge und menschliche Beziehungen, mit Wertungen aufgeladene Ideen und existenzielle Dinge des Lebens.6

Konformität und Unabhängigkeit erscheinen in diesem Konzept nicht als Merkmale des Charakters eines Menschen. Das macht Sinn, weil eine Person manchmal konform handelt, manchmal aber auch nicht. Konformistisch oder unabhängig ist sie immer im Zusammenhang mit konkreten und situativen Handlungen und Werthaltungen. Aber auch die Praxis vieler sozialpsychologischer Experimente, Konformismus als kausalen Effekt von äußeren Einflüssen, den so genannten Bezugsgruppen, zu erfassen, ist im Lichte dieser Definition unzureichend; entsprechende Messungen ignorieren vollständig die subjektive Seite eines persönlichen Engagements.

Jahodas Auseinandersetzung mit den Themen innere Sicherheit, staatliche Kontrolle sowie Freiheit des Denkens und Handelns zeigen, wie aktuell viele ihrer Arbeiten auch heute noch sind. Ihr ging es immer um „lebensnahe Forschung“, also um Forschung, mit der sie einen Beitrag zur Bewältigung konkreter gesellschaftlicher Probleme zu leisten versuchte. Aber nicht alle sozialen Probleme sind von Dauer und treffen den Kern unserer modernen Lebensform. Marie Jahoda hatte ein politisches Gespür für die grundlegenden Fragen unserer sozialen Ordnung. Und sie wusste aus eigener Lebenserfahrung, dass Demokratie kein Geschenk des Himmels ist, sondern in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen immer wieder neu erstritten werden muss.

Quellen

1 Zum biografischen Kontext von Jahodas Arbeiten zum Thema Sicherheit und Konformismus vgl. Christian Fleck; 2017: Marie Jahoda – ein Porträt. In: Marie Jahoda: Lebensgeschichtliche Protokolle der arbeitenden Klassen 1850-1930. Dissertation 1932. Hrsgg. Johann Bacher, Waltraud Kannonier Finster, Meinrad Ziegler. Innsbruck, Wien, Bozen, S. 267-361.

2 Vgl. Sicherheit und Freiheit (1952). Eine explorative Untersuchung zur Wirkung von Sicherheitsmaßnahmen unter McCarthy. In: Marie Jahoda; 2019: Aufsätze und Essays. Hrsgg. Johann Bacher, Waltraud Kannonier Finster, Meinrad Ziegler. Innsbruck, Wien, Bozen, S.144-199.

3 Vgl. ebd., S. 190.

4 Vgl. Konformität und Unabhängigkeit (1959). In: Marie Jahoda; 2019: Aufsätze und Essays. Hrsgg. Johann Bacher, Waltraud Kannonier Finster, Meinrad Ziegler. Innsbruck, Wien, Bozen, S. 242-275.

5 Ebd., S. 249.

6 Ebd., S. 270.