Die Mühen des dritten Wegs

von Dr. Michael R. Krätke, Professor für Politische Ökonomie an der Lancaster University, In: Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft Nr.98/1997 

Otto Bauern ist an allem schuld!

Als Otto Bauer mit 57 Jahren am 4. Juli 1938 im Exil in Paris starb, da schien alles zerstört und verloren, wofür er gekämpft hatte: die sozialistische Arbeiterbewegung in Österreich, ihre weltweit bewunderten Aufbauleistungen im Roten Wien, die Demokratie und zuletzt auch die Unabhängigkeit der Republik Deutschösterreich, die wenige Monate zuvor dem „Anschluß“ zum Opfer gefallen war. Den Kommunisten galt er als Verräter, den Konservativen und Klerikalen als heimlicher Bolschewist. Otto Bauer ist zu Lebzeiten und auch später für viele Niederlagen und Fehlentwicklungen der österreichischen und der europäischen Arbeiterbewegung haftbar gemacht worden. Bis heute steht eine seltsame Einheitsfront der linken und rechten Kritiker des Austromarxismus (von Lenin bis Leser, s. Literaturangaben), seines Dritten Weges und Otto Bauers im besonderen. Die Abneigung der Anti- und „wahren“ Marxisten aller Couleur gilt einem Mann, der wie kaum ein anderer die theoretische und politische Alternative des demokratischen Sozialismus zum Kommunismus und Reformismus verkörpert hat. Die kurzlebige Wiederentdeckung des Austromarxismus und Otto Bauers im besonderen, die in den siebziger und achtziger Jahren stattfand, paßte und paßt all denjenigen nicht, die nach wie vor die Unvereinbarkeit von marxistischer Theorie und demokratischem Sozialismus behaupten. Eines ihrer wichtigsten und bleibenden Ergebnisse war die neunbändige Ausgabe (leider noch immer keine Gesamtausgabe) von Arbeiten Otto Bauers, eine große editorische Leistung der österreichischen Sozialdemokratie, die, anders als die deutsche, sich ihrer marxistischen Tradition durchaus nicht schämt.

Theorie und Praxis

Otto Bauer war einer der produktivsten und wichtigsten marxistischen Theoretiker diese Jahrhunderts, aber er war alles andere als ein reiner Theoretiker. Er arbeitete seit 1907 als Fraktionssekretär der sozialdemokratischen Fraktion im Reichtstag (die stärkste mit 87 Abgeordneten aus fünf Nationen). Von November 1918 bis Juli 1919 war er Außenminister der neugegründeten Republik Deutsch-Österreich; zugleich war er Vorsitzender der staatlichen Sozialisierungskommission, Autor des sozialdemokratischen Sozialisierungsplans und konnte wichtige Reformgesetze (wie das österreichische Betriebsrätegesetz von 1919) durchsetzen. Seit Februar 1919 war er Abgeordneter und wurde rasch zum Wortführer der Sozialdemokratie innerhalb wie außerhalb des Parlaments, obwohl er weder Partei- noch Fraktionsvorsitzender war. Otto Bauer liebte die ihm zugefallene Führerrolle nicht, war dennoch ein fleißiger Parlamentarier, der die „Kärrnerarbeit“ in den Ausschüssen nicht scheute, ein häufiger (er hat von 1919 bis 1933 mehr als 130 Reden im Plenum gehalten – eine Auswahl seiner Parlamentsreden findet sich in der Werkausgabe Bd. V, 731ff.), ein geliebter und gefürchteter Debattenredner; er war ein überaus produktiver Journalist – er schrieb beinahe täglich einen Artikel für die „Arbeiterzeitung“ – zudem ein Versammlungsredner und Wahlkämpfer von Format (eine kleine Auswahl seiner Artikel für die Arbeiterzeitung, seiner Parteitags- und Wahlreden findet sich in der Werkausgabe Bd. V und VI).

Unter seiner Führung erreichte die Massenpartei SDAP (mehr als 730.000 Mitglieder, d.h. mehr als ein Zehntel der Gesamtbevölkerung von 6,5 Millionen) regelmäßig um die 40% der Stimmen bei allen Wahlen zum Nationalrat (mit dem Wahlerfolg vom April 1927 – 42,3% – als Höhepunkt), errang und behauptete sie eine absolute Mehrheit von fast 60% in Wien (das zugleich Stadt und Bundesland war) und war in allen Industriegebieten stark vertreten (fast die Hälfte der Österreicher lebte in sozialdemokratisch regierten Gemeinden). Die KP blieb eine ohnmächtige Sekte. Otto Bauer hat eine Vielzahl von politischen Programmen und Plänen für die österreichische Sozialdemokratie verfaßt oder entscheidend geprägt – so das Nationalitätenprogramm von 1918, das Sozialisierungprogramm von 1919/20, die Finanzpläne von 1921 und 1931, Arbeitsbeschaffungsprogramme von 1931/32, das Agrarprogramm der SDAP von 1925 und schließlich das Linzer Programm der SDAP von 1926 (III, 1001-1015 und III, 1017-1039). Alle diese Programme hat er auf Parteitagen der SDAP in öffentlichen Reden verteidigt (berühmt sind seine Programmreden auf dem Linzer Parteitag von 1926) und durchgesetzt.

Wie sein Vorbild Victor Adler war Otto Bauer ein großer Lehrer der Arbeiterbewegung, ständig unterwegs zu Reden und Vorträgen, an der Wiener Arbeiterschule und Arbeiterhochschule (einige von seinen Vorlesungsreihen dort, so vor allem seine „Einführung in die Volkswirtschaftslehre“, sind als Mitschriften erhalten geblieben, siehe Werkausgabe Bd. IV, 587ff., vgl. auch Bd. VI, 205ff.), auf Kongressen und Versammlungen aller Teilorganisationen der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften (einige seiner Reden an Parteiorganisationen sind wiedergegeben in der Werkausgabe, Bd. VI, 301ff.). Als Frontoffizier der k.u.k. Armee im ersten Weltkrieg wußte er aus eigener Erfahrung, wovon er sprach, wenn er vor Krieg und Bürgerkrieg warnte. Er war ein tapferer Mann, der weder aufgebrachten Volksmengen noch revolverschwingenden Faschisten, wie sie damals auch ins österreichische Parlament Einzug hielten, aus dem Wege ging. Im Gegensatz zur herrschenden Legende war er sich als Sozialist und Führer der weitaus stärksten politischen Partei und sozialen Bewegung seiner Verantwortung für das Land sehr bewußt. Er hat das Wort von der „Verantwortung vor den Müttern des Landes“ geprägt, was heute pathetisch klingt, aber sehr ernst gemeint war. Für ihn galten auch im Umgang mit politischen Gegnern moralische Normen, Anstandsregeln, die er zu den notwendigen Voraussetzungen einer funktionierenden Demokratie zählte (vgl. VII, 408f.).

Er stammte aus dem gebildeten, wohlhabenden jüdischen Bürgertum; die Leitung der väterlichen Textilfabrik zu übernehmen, schlug er aus. Er kam als Theoretiker, „vom wissenschaftlichen Sozialismus her“ zur Arbeiterbewegung: „Als Marxist wollte und will ich ihr dienen“, schrieb er 1910 (I, 763). Trotz chronischer Zeitnot war er ein äußerst produktiver und überraschend vielseitiger Autor: Es gibt kaum ein Gebiet der Sozialwissenschaften – von den ungelösten Problemen der Marxschen Politischen Ökonomie, über die Theorie der Nation und des modernen (National)Staates, die Funktionsweise der modernen, parlamentarischen Demokratie, die Soziologie der modernen Massenpartei, die Agrarfrage, die Untersuchung der Strukturveränderungen des Kapitalismus nach dem zweiten Weltkrieg, die Analyse der Entwicklung des sozialistischen Experiments in der Sowjetunion, die Kulturgeschichte bis hin zur Erkenntnistheorie und Philosophiegeschichte, mit dem er sich nicht in Buch- oder Aufsatzform gründlich befaßt hat. Soweit es nach Marx eine politische Theorie gibt, die sich auf die neue Realität von Kapitalismus und parlamentarischer Demokratie mit allgemeinem Wahlrecht nach den Umwälzungen von 1917/18 einläßt, findet sie sich bei Otto Bauer.

Otto Bauer und die Erfahrung des „Austromarxismus“

In der Wiener sozialistischen Studentenbewegung entstand um die Jahrhundertwende eine Gruppe marxistischer Intellektueller, zu der Otto Bauer als Jüngster stieß. Diese Gruppe um Karl Renner, Rudolf Hilferding, Max Adler, Gustav Eckstein gab seit 1904 die „Marx-Studien“ heraus, in denen sie die „bewußte Verknüpfung der marxistischen Denkresultate und -methoden mit dem gesamten Geistesleben, das ist mit dem Inhalt der philosophischen und sozialwissenschaftlichen Arbeit unserer Zeit“ herstellen wollten (wie es im Vorwort zum ersten Band hieß). Seit 1907 war Otto Bauer einer der Herausgeber der neuen Theoriezeitschrift Der Kampf.

Die Austromarxisten wollten sich über die Grundlagen der Marxschen Theorie verständigen und sich der zeitgenössischen Kritik stellen. Sie wollten neue Erfahrungen verarbeiten, Marx‘ Theorie auf neuen Arbeitsfeldern erproben, sich mit der Sozialwissenschaft ihrer Zeit auseinandersetzen. Hilferding tat das als Ökonom, Renner als Rechts- und Staatstheoretiker, Adler als Philosoph und Wissenschaftstheoretiker und Otto Bauer als Soziologe, der sich das politisch vordringliche Problem der nationalen Konflikte vornahm. Bis 1914 waren sie sich über ihr Arbeitsprogramm einig: „Was sie vereinigte, war nicht etwa eine besondere politische Richtung, sondern die Besonderheit ihrer wissenschaftlichen Arbeit“ (VIII, 11), die aus der Auseinandersetzung mit den wichtigsten philosophischen und sozialwissenschaftlichen Strömungen ihrer Zeit – außerhalb wie innerhalb des „Marxismus“ – entstand. Sie kritisierten einander öffentlich und machten eifrig Gebrauch von den (Vor)Arbeiten der anderen. Ihre letzte gemeinsame Arbeit, geplant als Studie über den Marxismus in der Praxis, beendete der Kriegsausbruch 1914.

Es ist gängig, aber grundfalsch, die Austromarxisten einfach dem „Marxismus der II. Internationale“ zuzuschlagen. Sie setzen sich mit eben dieser Gestalt des zur Parteidoktrin mutierten Marxismus auseinander, und sie brechen mit den Scheingewißheiten (Zusammenbruch und Endkrise des Kapitalismus, Notwendigkeit des Sozialismus) der Orthodoxie, ohne dem Empirismus der Revisionisten oder dem Moralismus der ethischen Sozialisten auf den Leim zu gehen. Bevor sie es politisch tun, gehen sie bereits theoretisch einen dritten Weg – zur Erneuerung der sozialistischen Theorie. Der gemeinsame Versuch, die „marxistische Geschichtsauffassung auf komplizierte, aller oberflächlichen, schematischen Anwendung der Marxschen Methode spottende Erscheinungen anzuwenden“ (VIII, 11f.), führt sie zu einer methodisch reflektierten, undogmatischen, empirisch und historisch wohlinformierten Version von „sozialwissenschaftlichem“ Marxismus. In der politischen Wissenschaft ist Otto Bauer ihr Hauptvertreter.

Marxismus als empirische Sozialwissenschaft

Als Otto Bauer zur Sozialdemokratie stieß, war der „Marxismus“ so etwas wie die herrschende Lehre des Sozialismus und Marx-Kritik große Mode in der offiziellen, akademischen Sozialwissenschaft geworden. Bauer sah die zeitgenössische Marx-Kritik als Chance, die von Marx begründete Sozialwissenschaft von den Eierschalen ihrer Entstehungszeit und von der Zwangsjacke des „Vulgärmarxismus“ zu befreien. Der Vulgärmarxismus (gemeint sind Kautsky und Lenin neben vielen anderen) wie sein Gegenstück, der Revisionismus, pflegt einzelne, ähnlich klingende Aussagen, in denen Marx die allgemeinsten Resultate seiner Forschungen zusammenfaßte, aus ihrem historischen und systematischen Zusammenhang zu reißen und sie in ihrer allgemeinsten Fassung zu dogmatisieren – mitsamt der Marxschen Redeweise. Die Methode sowie der theoretische Erklärungs- und Begründungszusammenhang der einzelnen Aussagen gehen dabei verloren – zusammen mit dem Reichtum an modifizierenden Einzeluntersuchungen und relativierenden Aussagen, die es bei Marx und Engels eben auch gibt. Das gilt auch für die „landläufige Marx-Kritik“, die von Marx nur weiß, was auch der Vulgärmarxismus weiß (vgl. VII, 929f; IX, 65f u.ö.).

Die Austromarxisten waren die ersten, die Marx‘ Hauptwerk Das Kapital vollständig in allen drei Bänden studieren konnten (1885 erschien der zweite, 1894 der dritte Band, bis 1909 waren die Theorien über den Mehrwert in Kautskys gekürzter Ausgabe erschienen). Sie lasen es daher nicht mehr, wie noch Marx‘ Zeitgenossen, als „ein historisches Werk“. Otto Bauer ist einer der allerersten, der im Marxschen Kapital die Konturen und die Methode einer neuen Wissenschaft entdeckte. Er las es als eine systematische, theoretische Untersuchung, in der Marx seine „eigenartige Methode“ zugleich vorführt und begründet (vgl. VII, 927, 931ff.). Soll die Marxsche Theorie „kein Schema sein, das uns beherrscht, sondern nur eine Methode, die wir beherrschen“ (VII, 938), muß man ihre Eigenarten begriffen haben.

Die zeitgenössische Schulphilosophie des Neukantianismus bestritt prinzipiell die „Möglichkeit einer kausalen Gesetzeswissenschaft von der gesellschaftlichen Entwicklung“ (IX, 755), mithin die Möglichkeit eines wissenschaftlichen Sozialismus. Dagegen behauptete Otto Bauer – im Anschluß an Max Adler -, daß Marx in der Tat eine empirische, exakte, kausale, mathematische Gesetzeswissenschaft vom sozialen Leben begründet habe (vgl. VII, 880, 891, 932); seine Methode sei die der „modernen Wissenschaft“, die empirische Mannigfaltigkeit auf allgemeine Gesetze, qualitative Bestimmungen auf meßbare quantitative Veränderungen zu reduzieren suche. Marx‘ „begriffliche Bearbeitung“ des historischen Materials habe im Kapital das „erste mathematische Bewegungsgesetz der Geschichte“ erbracht (VII, 936f; VIII, 196) und eine diskursive, „ihrem ganzen Verfahren nach mathematische Wirtschaftslehre“ begründet (II, 929). Marx‘ Darstellungsweise sei zu verbessern, weg von der Bildersprache, hin zu eindeutiger abstrakter Begriffsbildung (VIII, 378). Die vielgerühmte Dialektik sei jedoch durchaus kein Unsinn. Marx ahme im Kapital zwar Hegels Verfahren nach, aber er löse es aus seiner ontologischen Verkleidung. Das kann er, so Bauer, weil Hegel bei der „Durchführung der Dialektik im einzelnen“, in seiner Logik, der Naturwissenschaft seiner Zeit folge und eine „Beschreibung des Verfahrens der mathematischen Naturwissenschaft“ (II, 921) gebe.

Daraus folgt: Marxismus ist keine Philosophie, keine Weltanschauung, sondern steht für empirische Sozialwissenschaft. Der sozialwissenschaftliche Marxismus ist mit allen möglichen Weltanschauungen und Philosophien vereinbar, weshalb die Austromarxisten prinzipiell, nicht aus taktischen Erwägungen, Religion und Philosophie zur Privatsache erklären. Für die „Wissenschaft von der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft“ (III, 492), die der Sozialismus braucht, ist es gleichgültig, welche Weltanschauung die richtige ist, die der Materialisten (Plechanow, Lenin), die der Positivisten oder die der Kantianer (Max Adler). Was von der Philosophie im traditionellen Sinn bleibt, ist ein Zweig der Sozialwissenschaft, die „historisch-soziale Erkenntnislehre“ (II, 933), die die Weltbilder und Philosophien, mitsamt den jeweils vorherrschenden Auffassungen von Natur- und Sozialwissenschaft „in ihrer geschichtlichen Abhängigkeit, in ihrer zeitlichen Bedingtheit zu begreifen [hat] und uns dadurch von ihrem Bann .. befreien“ kann (II, 931). Max Adler hat nach Bauer die Marxisten vom Bann des naturwissenschaftlichen, mechanischen Materialismus befreit (VI, 708f.) (ein Bann, unter dem ein Großteil der Sozialwissenschaften bis heute steht). Die eigentliche „Lehre von den historischen Voraussetzungen der Erkenntnis bestimmter Geschichtsepochen, Gesellschaftsordnungen, Klassen“ (IX, 756) sei aber erst noch zu schaffen (vgl. dazu Bauers Skizze einer marxistischen Erkenntnislehre, Das Weltbild des Kapitalismus, II, 887-933).

Otto Bauer ist auch einer der ersten, der die Bedeutung der Analyse der Ware in Marx‘ Kritik der Politischen Ökonomie sieht (wohlgemerkt, 60 Jahre vor der neuen Linken!). Indem Marx die Werte der Waren als Resultat besonderer sozialer Beziehungen der Menschen zueinander faßt, die im Wert einen quantitativen, überindividuellen und dinglichen Ausdruck erhalten, grenze er das „besondere Problem der Sozialwissenschaft“ ab und begründe die politische Ökonomie als Sozialwissenschaft (VIII, 198, 199). Der Begriff der Arbeit sei „der zentrale Begriff des Marxschen Systems“ (VIII, 200), weil damit die sozialen Beziehungen der Menschen untereinander mit den Beziehungen, in denen die Gattung Mensch zur Natur steht, mithin Sozial- und Naturwissenschaft verknüpft werden. Ohne Werttheorie, die auf dem Begriff der gesellschaftlichen Arbeit aufbaut, gibt es für Otto Bauer keine empirisch-analytisch brauchbare Ökonomie, obwohl er die Schwachstellen der Marxschen Darstellung klar sieht (vgl. z.B. VIII, 374).

Bauer Pionierarbeit – Die „Nationalitätenfrage“

Mit dem Buch „Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie“ (1907, siehe I, 49-622) wurde Bauer auf einen Schlag bekannt. Für die Sozialdemokratie im Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn war das eine Lebensfrage: Als einzige nicht national organisierte Partei mußte sie sich ständig gegen den nationalen Spaltpilz wehren. Seit 1905 war die nationale Spaltung der Partei, dann auch der Gewerkschaften und Genossenschaften im Gang.

Otto Bauer will die nationalen Eigenarten und Unterschiede aus dem historischen Prozeß der Differenzierung und Integration von Kulturen erklären. Den Individualisten gilt die Nationalität als Illusion, den Nationalisten als naturgegeben; Otto Bauer betrachtet sie zum ersten Mal konsequent als soziales und damit historisches Phänomen. Wie für jedes soziale Phänomen gilt auch hier: „Das nationale Bewußtsein kann nur aus dem nationalen Sein verstanden werden und nicht umgekehrt.“ (I, 113) Die Nation ist eine der Formen, in denen die Gesellschaft die Individuen prägt, die Form, in der eine „Kulturgemeinschaft“ durch eine gemeinsame Geschichte hindurch jeweils zu einer „Charaktergemeinschaft“ wird. Die den Charakter prägende gemeinsame Geschichte, die historische „Schicksalsgemeinschaft“ ist dabei entscheidend: Unser Nationalcharakter, betont Bauer, ist das „Historische in uns“, ein Stück „geronnener Geschichte“ unseres Volkes, an dem wir durch Vererbung körperlicher und geistiger Anlagen so wie durch kulturelle Überlieferung, durch Erziehung und gewohnheitsmäßigen Umgang mit Menschen gleichartigen Charakters Anteil haben (I, 182, 184). Der Nationalcharakter, das „Produkt ererbter Eigenschaften und überlieferter Kulturgüter“ (I, 185), erweist jedes Individuum als Produkt einer bestimmten Gesellschaft.

In allen Klassengesellschaften besteht eine kulturelle Scheidung zwischen oben und unten. Eine gemeinschaftliche Kultur bildet sich zuerst nur in den herrschenden Klassen aus, die auch die Gebildeten umfassen; die arbeitenden Klassen sind in der Regel von den Kulturgemeinschaften der Herrschenden ausgeschlossen, sie bilden die „Hintersassen der Nation“ (I, 180). Erst im modernen Kapitalismus und dank der Volksschule, der allgemeinen Wehrpflicht und der Erweiterung des Wahlrechts entsteht so etwas wie eine nationale Kulturgemeinschaft, die lokale, Berufs- und Klassengrenzen übersteigt (vgl. I, 146ff.). Durch Eroberung und Kolonisierung kommt eine Scheidung zwischen historischen Nationen, die aus herrschenden und beherrschten Klassen bestehen, und geschichtslosen Nationen, die nur aus beherrschten und ausgebeuteten Klassen bestehen, zustande; denn die Herrenvölker unterdrücken und vernichten in der Regel die herrschenden Klassen der unterworfenen Völker, die deren nationale Kultur tragen. Aber unterworfene Nationen müssen nicht für alle Zeiten „geschichtslos“ bleiben. Das „Erwachen der geschichtslosen Nationen“ ist nach Bauer eine der „wichtigsten Begleiterscheinungen“ der modernen kapitalistischen Entwicklung (I, 52f., vgl. 322ff gegen Engels!). Konkurrenz und Migration erklären das Phänomen des nationalen Hasses im modernen Kapitalismus. Nationaler Haß ist, wie Bauer am Beispiel des Juden- und Deutschenhasses vorführt, nichts anderes als „transformierter Klassenhaß“ (I, 315), der mit Umwälzungen der Sozialstruktur zusammenhängt. Im Gegensatz zur Tendenz zur Nivellierung aller Massen- und Volkskultur im entwickelten Kapitalismus werden sich die sozialistischen Gesellschaften weit stärker kulturell und damit national differenzieren, weil hier zum ersten Mal eine klassenübergreifende nationale Kultur möglich und zugleich notwendig wird (vgl. I, 163, 166ff., 180, 194 u.ö.). Mit der Einebnung der Klassenunterschiede geht nach Bauers Vorstellung gerade eine schärfere Differenzierung der Nationen einher.

Das Buch ist ein noch heute sehr lesenswerter Abriß der Kultur- und Sozialgeschichte (nicht nur) Deutschlands und Österreichs. Bauers Untersuchung des Problems der nationalen Minderheiten ist höchst aktuell: wie, unter welchen Bedingungen und mit welchen Folgen Menschen verschiedener Nationalität in einem Staat bzw. in einem Staatensystem zusammenleben können und in welchen Formen ihre Integration ablaufen kann, das hat er 1911 in einer Reihe von „Assimilationsgesetzen“ (sieben sind es) zusammengefaßt (vgl. VIII, 603ff.).

Aber die „Nationalitätenfrage“ ist weit mehr: Man kann sie auch als ersten Versuch einer ausgearbeiteten historischen Soziologie des modernen Staates lesen, der politischen Form, die „mit der Warenproduktion entstanden ist und mit ihr verschwinden wird“ (I, 186). Bauer beginnt mit den italienischen Stadtrepubliken, der ersten Gestalt des modernen, aber noch keineswegs durch und durch bürgerlichen, geschweige denn kapitalistischen Staates. Bezeichnend für Bauer ist es, daß er die Übergangs- und Zwischenformen des Staates, die historisch zum bürgerlichen Staat hinführen, die „interessanten Mischbildungen“ (I, 272) und „Zwischengebilde“ (I, 254) wie den Ständestaat ausführlich analysiert und als historische Formen von „Doppelherrschaft und Doppelverwaltung“ erklärt (vgl. I, 255ff.). Er analysiert die verschiedenen Entwicklungslinien des modernen Staates in Europa und zeigt, wie und warum sie im Laufe des 19. Jahrhunderts in die noch heute bestehende Form des „Nationalstaats“ und nur in wenigen Ausnahmefällen in die des „Nationalitätenstaates“ mündet (vgl. I, 229ff.). Eine Untersuchung, in der die staatstragende Bürokratie eine Schlüsselrolle spielt. Daher sieht Bauer klar die zentrale Rolle, die dem Staat, der vor dem Kapitalismus da ist, und dessen höchsteigenen (ökonomischen und politischen) Sonderinteressen bei der Entstehung und Durchsetzung des modernen (industriellen) Kapitalismus zukommt.

Bauers Unvollendete 1 – die soziale Formenlehre

Otto Bauer sah seine Studie zur Nationalitätenfrage nur als Teil der notwendigen „systematische(n) Selbstbesinnung über die in den Grundsätzen der materialistischen Geschichtsauffassung enthaltenen Begriffe und ihre Verknüpfung“ (VII, 939). Wie über sechzig Jahre später die intellektuelle Neue Linke war Bauer als Sozialwissenschaftler fasziniert von der bei Marx vorgefundenen, von seinen Anhängern (von Kautsky ebenso wie von Lenin) aber in der Regel vernachlässigten Formanalyse: Gerade in der Marxschen Tradition dürfe man sich nie mit dem Benennen des Inhalts sozialer Phänomene zufrieden geben; das „formale Element in ihnen“ sei ebenso wichtig. Man müsse stets auch die „eigenartigen Formen, in denen dieser Inhalt in Erscheinung tritt“, analysieren und in ihren richtigen, sozialen Zusammenhang stellen (VII, 939). Systematisch betrieben, führe das zur „exakten Unterscheidung der verschiedenen Formen der sozialen Verbände und der sozialen Institutionen“ oder zur „soziale(n) Formenlehre“ (VII, 939). Der Zweck dieser Übung sei es, eine brauchbare „Lehre von den Mittelgliedern“ (d.h. sozialen Gruppen und Institutionen) zu entwickeln, über die die konkreten individuellen und kollektiven Bewußtseinserscheinungen (wie z.B. nationale Vorurteile, Ausländerhaß) mit den jeweiligen Produktionsverhältnissen verknüpft seien (VII, 940).

An diesem Projekt hat Bauer zeitlebens festgehalten. In späteren, politischen Schriften hat er es gelegentlich auf eine provozierende Formel verkürzt: Die „Qualitäten des subjektiven Faktors [sind] ebenso als Resultate objektiver Faktoren zu begreifen wie die objektiven Faktoren als Resultate subjektiven Handelns“ (IX, 739), oder kurz: „Der subjektive Faktor ist ein Produkt objektiver Faktoren“ (IV, 392). Und die sozialen Formen gehören ebenso zu den objektiven, Subjektivität und Bewußtsein prägenden Faktoren wie die berühmten Produktivkräfte. Den „geplanten Grundriß einer sozialen Formenlehre“, die Darstellung der in der Marxschen Geschichtsauffassung angelegten „Lehre von den sozialen Gruppen, von den Mittelgliedern zwischen den Produktivkräften und dem lebendigen Individuum“ (VII, 941, 949) hat er nie beenden können. So wie er als junger Mann den „Fetischismus des Nationalcharakters“ zu entzaubern suchte, hat er sich später ständig bemüht, die Illusionen, Vorurteile, Vorstellungen politischer Freunde wie Gegner zu erklären, aus ihrer sozialen Bedingtheit und Formbestimmtheit begreiflich zu machen. In seinen zahlreichen politischen Schriften, von der Österreichischen Revolution von 1923 (siehe II, 489ff.) bis hin zu seiner letzten Arbeit (Die illegale Partei, posthum 1939 veröffentlicht, vgl. IV, 347ff.), finden sich Elemente einer politischen Soziologie der Demokratie und der Arbeiterbewegung, bis heute brauchbare und in vielem unübertroffene Ansätze einer „politischen Formenlehre“.

Bauers Unvollendete 2 – die „Kritik der Politik“

Otto Bauer begriff Marxismus als politische Wissenschaft. Von Marx war zu lernen, sich im „Gewirr der politischen Ereignisse zurechtzufinden durch das stete Bemühen, sie aus dem Gang der wirtschaftlichen Entwicklung, aus den Klassenkämpfen und aus den Verschiebungen in den Machtverhältnissen der Klassen zu erklären“ (VIII, 805), die „Methode der konkreten Analyse der konkreten, sich täglich wandelnden Klassenstruktur der Gesellschaft und ihrer geistigen und politischen Ausdrucksformen“ (IX, 201f.). Bauer war ein Meister der „Kunst der marxistischen Analyse der politischen Tagessituation, ihres Begreifens aus den jeweiligen Machtverhältnissen der Klassen, der Ableitung der jeweiligen Aufgaben und der jeweiligen Schranken der proletarischen Aktion aus ihr“ (IX, 758). Dazu gehörte intellektuelle Disziplin und Distanz. Ein „marxistischer Politiker“ sollte auch die Irrtümer, Illusionen und Irrwege der Arbeiterbewegung seines Landes und seiner Zeit aus ihren jeweiligen „objektiven Daseinsbedingungen“ begreifen und erklären können, um ihnen nicht blind ausgeliefert zu sein (VIII, 931f.).

Der gängige Vorwurf, Marxisten interessierten sich nur dafür, wer oder was herrscht, aber nicht dafür, in welchen Formen Herrschaft ausgeübt wird, trifft Otto Bauer nicht. Zwischen Herrschaftsformen und ihrem sozialen Inhalt „besteht ein innerer Zusammenhang“ (II, 319). Politische Formunterschiede sind wichtig, auch kleine institutionelle Details und Nuancen können etwas über die „tatsächlichen Machtverhältnisse“, die wirkliche Verfassung eines Landes (VIII, 880), aussagen. Otto Bauer hat sich mit vielen Formen des modernen Staates befaßt – vom Ständestaat, über den Absolutismus bis hin zum Faschismus; sein Hauptinteresse aber galt der Analyse der „bürgerlichen Demokratie“ und ihren Spielarten in den verschiedenen kapitalistischen Ländern. In der Demokratie sah er – ganz wie die Altväter Marx und Engels – zugleich die beste mögliche politische Form für die bürgerliche Gesellschaft, die Form, in der ihre inneren Konflikte offen ausgetragen werden konnten, und die notwendige und hinreichende politische Bedingung jeder sozialistischen Gesellschaft, die einzige Form, in dem der Prozeß der Transformation, des Umbaus von Wirtschaft und Gesellschaft bis zum gewünschten Ziel der ‚klassenlosen Gesellschaft“ gebracht werden könne.

Gegen die damals gängigen Phrasen von der „Bourgeoisrepublik“ oder der „Diktatur der Bourgeoisie“ entwickelt Otto Bauer die „feinere theoretische Analyse des Marxismus“ (II, 803), spürt den inneren Widersprüchen der bürgerlichen Demokratie nach, zeigt ihre Herrschaftsmechanismen auf, verfolgt ihren Form- und Funktionswandel, entschlüsselt den fortlaufenden Kampf um die „Hegemonie“. Er führt die damals wie heute kaum bekannten politischen Analysen von Marx weiter – und zwar lange vor Gramsci und erheblich präziser als jener. Kapitalismus und Demokratie hängen notwendig zusammen. Die demokratische Staatsform ist ein „Resultat der Entwicklung des Kapitalismus“ (IV, 121); die Demokratie führt (auf lange Sicht) den Kapitalismus auf eine „technisch, sozial und kulturell ungleich höhere(n) Entwicklungsstufe“ (IV, 131). Das ist möglich, weil die Demokratie eine Staatsform ist, die die direkte, organisierte physische Gewalt in den Hintergrund des politischen Kräftespiels verbannt, formelle politische Privilegien aufhebt, mithin den „sozialen Machtfaktoren“ den überragenden Einfluß auf die politische Machtverteilung zwischen den sozialen Klassen zuweist (vgl. II, 245ff., 655; IX, 378ff u.ö.). Folglich kann der soziale Inhalt der Demokratie verschieden sein. Im Kapitalismus bleibt sie geprägt vom umfassenden Widerspruch zwischen politischer Gleichberechtigung und sozialer Klassenherrschaft (vgl. IV, 133, IX, 381 u.ö.).

Will man diesen Widerspruch analysieren, muß man sich die Mechanismen ansehen, über die ökonomische in politische Herrschaft umgesetzt wird. In Bauers Analysen dieser Herrschaftsmechanismen kommt den Massenparteien, die ihre soziale Basis in den Mittelklassen der bürgerlichen Gesellschaft haben, eine Schlüsselrolle zu (vgl. IV, 125ff; IX, 202ff., 250, 257 u.ö.). In der Demokratie ist Herrschaft nur in der Form der Hegemonie, der geistigen Führerschaft möglich: Die bürgerlichen Massenparteien geraten ideologisch, ihrer Denkweise nach „unter den Einfluß, unter die Führung der großen Bourgeoisie“, und sie können die Regierungsgewalt im Staat nur behaupten, indem sie breite Schichten der Mittelklassen und der Arbeiterklasse „mittels politischer, religiöser, nationaler Ideologien unter ihrem Einfluß halten“ (IX, 207). „Minderheitsherrschaft der Großbourgeoisie mittels Mehrheitsregierung der bürgerlichen Massenparteien“, das ist das „Spezifische“ der bürgerlichen Demokratie (IX, 208).

Diese Parteien entwickeln und verändern sich, ebenso wie die Herrschaftsmethoden und die Formen, in denen sich verschiedene politische Blöcke bilden und ihre Hegemonie erringen, behaupten und wieder verlieren (vgl. II, 937ff.). Die Arbeiterbewegung bringt ihre eigenen Massenparteien hervor und tritt in den Kampf um die Hegemonie, um die geistige Führung der Massen der Arbeiter und der Mittelschichten ein. Daher verändert gerade der Mechanismus der Demokratie auch den Charakter der bürgerlichen Parteien, die sich zu Massen- und Volksparteien mausern und Wählermassen verschiedener Klassen um sich scharen müssen. Dank der Heterogenität ihrer sozialen Basis sind sie genötigt, immer wieder Kompromisse auszuhandeln und den Interessen ihrer nichtbürgerlichen Anhänger Zugeständnisse zu machen (vgl. IV, 134ff.). Gelegentlich, dank großer sozialer Erschütterungen im Gefolge von Krisen und Kriegen (wie 1918ff oder auch 1945ff.), kann ein Zustand des „Gleichgewichts der Klassenkräfte“ auftreten, der allerdings ganz verschiedene politische Folgen und Ausdrucksformen haben kann, je nach der Konstellation der Klassen und Klassenallianzen, die einander vorübergehend das „Gleichgewicht“ halten. Mitunter führen diese Gleichgewichtszustände zu neuen Partei- und Blockbildungen, zu Koalitionsregierungen und zu neuen institutionellen Formen und Regierungsmethoden – wie den Formen der „funktionellen Demokratie“ (Vorläufern des späteren Korporatismus in vielen kapitalistischen Ländern) (vgl. II, 656ff., 727ff., 731f., 743ff; IX, 55ff; IV, 148ff u.ö.).

Solche Gleichgewichte sind höchst unstabil. Des öfteren führen sie zur Sprengung der demokratischen Staatsform, zu neuen autoritären Regimes (Bonapartismus, Faschismus in verschiedenen Formen), die aber wiederum keine Diktaturen der Bourgeoisie sind: Aus „Deklassierten“, aus den „Abfällen“ vieler Klassen bildet sich eine neue „regierende Kaste“, Teile der alten „regierenden Kasten“ (Bürokratie und Militär) sowie Teile der vormals herrschenden Klassen (des Großbürgertums und der Großgrundbesitzer im deutschen Fall) können in den neuen „herrschenden Block“ aufgenommen werden (vgl. IV, 148ff., 153ff; IX, 67f., 319f.). Die soziale Basis dieser Diktatur kann sich verbreitern oder verengen; damit ändert sich jeweils auch ihre Struktur und Funktionsweise. Mithin gibt es mehrere Faschismen mit durchaus verschiedenem sozialen Inhalt (vgl. IX, 490).

Otto Bauer hat sich mit der italienischen, spanischen, deutschen und österreichischen Spielart des Faschismus befaßt (vgl. IV, 360ff.). Er sah die historischen Parallelen zum Bonapartismus, warnte aber vor übertriebenen Analogien, da der Faschismus „auf einer ungleich späteren, ungleich höheren Entwicklungsstufe des Kapitalismus“ entstanden ist (VII, 770). Ideologisch ist der Faschismus Erbe der romantischen Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft und Kultur (vgl. IV, 187ff.); er floriert, wo die Ideen der bürgerlichen Revolution nicht die Kraft eines Volksvorurteils erlangt haben (IV, 191). Faschistische Massenbewegungen sind also ein Ausdruck der Schwäche der bürgerlichen Hegemonie, die keineswegs immer und überall alle Klassen und Schichten des Volkes „durch die Macht ihrer Ideen“ (IV, 136) im Zaum zu halten vermag. Wo diese Hegemonie stabil ist, wo die Bourgeoisie ohne Privilegien, ohne Unterdrückung, nur kraft ihrer Ideen und ihrer „volkstümlich gewordenen falschen Theorie(n)“ (vgl. IV, 125f., 136) herrscht, wo sie nicht nur alle besitzenden Klassen für sich gewonnen, sondern auch die Arbeitermassen mit ihrer Herrschaft versöhnt hat (wie z.B. in England – vgl. II, 322), da ist auch die Demokratie ungefährdet.

Bauers Sozialismuskonzept

Marxisten wird für gewöhnlich vorgehalten, sich mehr für soziale Gleichheit als für individuelle Freiheit zu interessieren. Auch dies Vorurteil trifft auf Otto Bauer nicht zu. Sein Konzept des demokratischen Sozialismus – im Gegensatz zum bürokratischen oder reinen Staatssozialismus bzw. zum despotischen Sozialismus – läßt sich geradezu auf die sehr moderne Formel reale „Freiheit für alle“ bringen. Dazu gehört auch gutes Leben – „Wohlstand für alle“ (vgl. IX, 785, 787).

Reale Freiheit für alle braucht materielle und intellektuelle Voraussetzungen ebenso wie institutionelle Garantien: Ganz bewußt spricht Bauer stets von konkreten individuellen und kollektiven Freiheiten im Plural und nennt sie beim Namen. Die Menschen- und Bürgerrechte, allererst die individuelle „Gewissens- und Gesinnungsfreiheit“, dann das „Recht der freien Rede, der freien Kritik, der freien Organisation“ (IX, 624, 285f.), „Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Vereinsfreiheit“ (IX, 643) bilden die eigentliche Grundlage der Demokratie. Diese Freiheiten brauchen Garantien, müssen durch besondere Institutionen – Rechtsinstitute – gesichert werden. Daher ist der Rechtsstaat, das Prinzip der „Herrschaft des Gesetzes“ die wesentliche Voraussetzung jeglicher Demokratie (IV, 194f; IX, 384, 627, 641). Zur Demokratie gehören auch Mehrheitsherrschaft auf der Grundlage des allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrechts und das Prinzip der verantwortlichen Regierung (II, 301f., V, 417 u.ö.).

Aber ihren Kern, ihren „Lebensquell“ bildet die individuelle geistige Freiheit, die kollektive Freiheit erst ermöglicht. Denn politische Freiheit besteht für Otto Bauer im Gebrauch der politischen Rechte, in der offenen und öffentlichen Auseinandersetzung mit friedlichen, geistigen Mitteln um die „Herzen und Hirne“ der Volksmehrheit. Der Sozialismus dient dazu, die Schranken, die dem Gebrauch dieser Freiheiten im Kapitalismus gesetzt sind, aufzuheben und gerade die individuelle geistige Freiheit zu einer realen Freiheit für alle zu machen. Ganz unromantisch betont Bauer schon 1906, daß der Sozialismus keineswegs die „gute“ Gesellschaft, die endgültige „Verwirklichung des Sittengesetzes“ sei; zwar fielen die Klassengegensätze auf die Dauer weg, aber damit noch keineswegs alle Gegensätze, „nicht einmal alle Interessengegensätze in der Gesellschaft“. In der sozialistischen Demokratie können diese Interessengegensätze offen ausgetragen werden, ohne die jeweiligen Gegner im Interessenkampf unterdrücken oder sie „mittels einer verlogenen Ideologie über ihr wahres Interesse“ täuschen zu müssen (VII, 885, 887).

Sozialismus ist für Otto Bauer wirtschaftliche Demokratie, die reale „Selbstbestimmung des Volkes in seinem Arbeits- und Wirtschaftsprozeß“ (IX, 283). Um wirtschaftliche Freiheit (Bewegungs- und Entscheidungsfreiheit) für alle herzustellen, müssen die vielfäItigen Abhängigkeits- und Herrschaftsverhältnisse des Kapitalismus, voran die Lohnabhängigkeit in allen ihren Formen, überwunden werden. Industrielle Demokratie hat Betriebsdemokratie zur Voraussetzung, reicht aber weiter als die bloße Produzentendemokratie – sie soll „wirtschaftliche Selbstverwaltung des ganzen Volkes“, aller am Wirtschaftsprozeß beteiligten, davon abhängigen Personen sein (II, 129, 300).

Daher entwickelt Otto Bauer, gleichermaßen gegen syndikalistische und staatssozialistische Vorstellungen gewandt, sein Konzept der Vergesellschaftung: Um den großen Grund- und Immobilienbesitz, um die Produktions-, Transport- und Kommunikationsmittel einer hochentwickelten industriellen Gesellschaft aus privatem in gesellschaftliches Eigentum zu überführen, um die vielerlei Mehrwerttitel aufzuheben, dazu braucht man den Staat. Aber die vergesellschafteten Industrien sollen weder dem Staat gehören noch von staatlichen Behörden verwaltet werden; sie sollen demokratisch gewählten und verantwortlichen Verwaltungsräten unterstellt werden, in denen die Produzenten ebenso wie die Konsumenten vertreten sind. Dazu kommen Staatsvertreter, die allgemeine volkswirtschaftliche Interessen (z.B. auch Umwelt- oder Beschäftigungs- oder Außenhandelsinteressen) wahrzunehmen haben. Von einer staatlichen Gesamt- oder Rahmenplanung ist keine Rede. Die vergesellschafteten und demokratisch selbstverwalteten Banken sollen Investitionen lenken – über Kredite, die den einzelnen selbstverwalteten Betrieben und Branchen Spielraum für eigene Entscheidungen lassen. Heute würde man das Marktsozialismus nennen: ein Konzept, in dem viele Formen der wirtschaftlichen Selbstverwaltung, von Genossenschaften über gemeinnützige oder gemeinwirtschaftliche Betriebe bis hin zu privaten (Familien)betrieben in der Landwirtschaft oder im Handwerk ihren Platz haben (vgl. Der Weg zum Sozialismus, 1919, Die Sozialisierungsaktion, 1919, Bolschewismus oder Sozialdemokratie, 1920 – in Werkausgabe Bd. II).

Es gibt kein fix und fertiges Patentrezept für den Sozialismus (vgl. VII, 315, 316 u.ö.). Die neue Produktionsweise entsteht in einem langfristigen Prozeß des Experimentierens, Ausprobierens und Lernens: die soziale Revolution wird das „Ergebnis kühner, aber auch besonnener Arbeit vieler Jahre“, vielleicht Generationen sein (II, 95, 320). Dafür ist die (politische und wirtschaftliche) Demokratie die notwendige und beste Form: Denn in diesem Prozeß geht es auch und gerade um die „Selbsterziehung der Arbeiterklasse“, die sie erst zur Selbstverwaltung und -regierung im Wirtschaftsprozeß, zur Demokratisierung der Unternehmerfunktionen befähigen wird (II, 424, 204ff., 284f., 711, III, 276 u.ö.). Daher die Bedeutung der Betriebsräte und der Genossenschaften für die werdende sozialistische Wirtschaftsorganisation. Daher die Notwendigkeit der Demokratie für den Sozialismus: Erst die (lange) Erfahrung im Gebrauch politischer Freiheiten kann aus der subalternen Arbeiterklasse eine „Klasse freiheitshungriger Persönlichkeiten“ machen, deren „Freiheitsdrang“ sie zum Sozialismus, zur wirtschaftlichen Selbstregierung führt (II, 333, 332, 742 u.ö.). Die Arbeiterklasse entwickelt sich durch die Arbeiterbewegung, die daher selbst in allen ihren Organisationen der Demokratie bedarf. Ohne geistige Freiheit, ohne offenen Meinungskampf innerhalb der Arbeiterbewegung besteht immer wieder die Gefahr, daß der „Sozialismus der Arbeiterbewegung selbst“ dem Sozialismus der Ideologen oder Berufsrevolutionäre, denen „das Proletariat nur das Instrument der Idee“ ist, zum Opfer fällt (II, 330, IX, 102 u.ö.).

Kritik der Sowjetunion

Über zwanzig Jahre lang war Otto Bauer einer der schärfsten, zugleich auch fairsten und sachkundigsten Kritiker des sozialistischen Experiments in der Sowjetunion (vgl. z.B. Die Russische Revolution und das europäische Proletariat, 1917, Rätediktatur oder Demokratie?, 1919, Bolschewismus oder Sozialdemokratie?, 1920, Der „neue Kurs“ in Sowjetrußland, 1921 – Werkausgabe Bd. II, Zwischen zwei Weltkriegen?, 1936, Werkausgabe Bd. IV). Er hielt die russische Revolution für ein welthistorisches Ereignis, aber nicht für ein Verdienst der Bolschewiki, die, von der Massenbewegung der kriegsmüden Bauern und Industriearbeiter zur Macht getragen, drauflos improvisierten und, teils bedingt durch die Rückständigkeit des Landes, teils durch ihre eigenen Fehler auf die schiefe Bahn zum despotischen Sozialismus gerieten. Er hat die geschriebene wie die tatsächliche Verfassung der Sowjetunion klar analysiert (vgl. II, 269ff über die Sowjetverfassung von 1918, IX, 637ff über die Sowjetverfassung von 1936) und sich über die rasche Verwandlung der anfänglichen Räteherrschaft in eine Diktatur der Parteibürokratie keine Illusionen gemacht (vgl. II, 290ff., IX, 561, 803, 820ff. u.ö.). Er hat den Terror der Diktatur nicht verschwiegen und nicht entschuldigt; er sah allerdings sehr klar, daß eine solche terroristische Diktatur in einem Bauernland, das in keiner Hinsicht „reif“ für den Sozialismus war, die einzige Möglichkeit darstellte, um eine winzige Elite von Berufsrevolutionären und Gesinnungssozialisten an der Macht zu halten.

Die entscheidende Frage war, was eine solche Diktatur im sozialistischen Sinn bewirken und erreichen könne. Zu Anfang hielt Bauer die Diktatur für eine kurze Übergangsphase, die dank der durch sie ausgelösten Agrarrevolution bald wieder in eine bürgerlich-bäuerliche Demokratie auf kapitalistischer Grundlage münden werde (vgl. VIII, 928f u.ö.); immerhin könne das Experiment der Bolschewiki zu neuen ökonomischen „Mischformen“ von mehr oder minder sozialistischem Charakter führen (II, 300f.). Durch die Wende zur Neuen Ökonomischen Politik Anfang 1921 sah er sich voll bestätigt: Nun hätten die Bolschewiki selbst anerkannt, daß ihre Parteidiktatur nur eine Zwischenphase in einer bürgerlichen Revolution sein könne. Daher könne es nur noch darum gehen, die Diktatur so schnell und so unblutig wie möglich zu liquidieren (vgl. II, 429ff., 455ff.). Nach der erneuten Wende zur forcierten Industrialisierung (und Aufrüstung) in der SU Ende der zwanziger Jahre räumte Otto Bauer ein, daß die Politik der nachholenden Industrialisierung Rußlands gelingen könne. Der Aufbau einer neuen, modernen Großindustrie, die Verwandlung eines rückständigen Agrarlandes in einen Industriestaat würde enorme Opfer kosten. Aber er würde zumindest auch die materiellen Fundamente einer künftigen sozialistischen Ordnung hervorbringen (vgl. Kapitalismus und Sozialismus nach dem Weltkrieg, III, 894ff.).

Otto Bauer machte allerdings einen klaren Vorbehalt: Ohne Abbau der Diktatur, ohne Demokratisierung, werde es auch mit noch so viel Industrie keinen Fortschritt zum Sozialismus geben. Anders als seine Kritiker ihm schon damals vorhielten, glaubte er keineswegs an eine „Selbstaufhebung der Diktatur“: „Die Freiheit wird wohl auch in Rußland erkämpft werden müssen.“ (IX, 286) Obwohl er die demoralisierenden, korrumpierenden Folgen der Diktatur sah (vgl. z.B. III, 907ff.), setzte er darauf, daß die Industrialisierung der Sowjetunion die Sozialstruktur und die Kultur des Landes umwälzen und die Diktatur auf Dauer überflüssig machen werde (vgl. z.B. IX, 583, 783ff u.ö.). Er beschrieb genau das Dilemma, an dem gut fünfzig Jahre später das Experiment Gorbatschows scheitern sollte: Die Parteidiktatur, die als stärkster Hebel für die Entwicklung der materiellen Voraussetzungen einer sozialistischen Ökonomie wirkt, ist zugleich das größte Hindernis für die Entwicklung ihrer intellektuellen und moralischen Voraussetzungen. Jede Erneuerung kann nur von oben, aus dem Parteiapparat kommen, aber sobald sie kommt, machen sich die Zerstörungen bemerkbar, die die terroristische Diktatur angerichtet hat – die so lange unterdrückte Gesellschaft fällt auseinander.

Revolutionärer Reformismus – Die Strategie des „dritten“ Weges

Anders als die bis heute verbreitete Legende es will, war Otto Bauer kein „Determinist“ oder „Fatalist“, der auf die naturnotwendige Ankunft des Sozialismus wartete. Allerdings war er der Ansicht, daß es auch für sozialistische Politiker einige Regelmäßigkeiten und Gesetzlichkeiten des sozialen Lebens gebe, die zu beachten seien. Das glauben in der Tat die meisten Sozialwissenschaftler.

Zum demokratischen Sozialismus kommt man – wenigstens in Westeuropa – nur auf demokratischem Wege! Diesen Grundsatz hat Otto Bauer mit aller Konsequenz vertreten. Dafür hat er Unerhörtes getan: Er hat eine Revolution, eine Machtergreifung durch bewaffnete Arbeiter in Wien und Umgebung verhindert, und er stand dazu. Er hat sich geweigert, dem taktischen Grundsatz des großen Napoleon zu folgen, der lautete: Erst mal siegen, dann sehen wir weiter! Er sah nämlich nur zu klar, wohin eine Machtergreifung, die im Winter 1918/19 jederzeit möglich gewesen wäre, führen würde: In eine rasche, blutige Katastrophe, in den schnellen Zusammenbruch der „Wiener Kommune“, die weder der Lebensmittel- und Kohlenblockade, noch den Truppen der Entente mehr als nur symbolischen Widerstand würde entgegensetzen können (vgl. seine Darstellung in Die österreichische Revolution, 1923, II, 641ff.).

Otto Bauer hatte den Mut, unpopulär zu sein. Als „Höflinge des Proletariats“ (I, 155) seien Marxisten in der Arbeiterbewegung fehl am Platze. Sie sollten sich momentanen Massenstimmungen widersetzen und Illusionen offen kritisieren. Als sozialistischer Politiker war Bauer ein Verantwortungsethiker, wie er im Buche steht. Er nahm seine Verantwortung für das Leben und Wohlergehen derjenigen, die im politisch vertrauten und folgten, bitter ernst: Man spielt nicht mit dem Leben der eigenen Anhänger und schon gar nicht mit dem Leben Dritter, die keineswegs danach verlangen, für die Sache des Sozialismus geopfert zu werden. Man spielt auch nicht mit den Gefühlen, den Stimmungen und Ängsten, den Illusionen der eigenen Anhänger oder derjenigen, die man gewinnen will. Immer wieder hat er sich gegen die Politik der „gefälschten Landkarten“ (II, 244) gewandt. Man muß wissen, was man kann, aber ebenso, was man darf (II, 465). Taktische Fragen sind nach Zweckmäßigkeit zu entscheiden, aufgrund genauester Kenntnis der Besonderheiten des Landes und der Epoche, in der man sich bewegt (vgl. IX, 172, 201, 420 u.ö.). Aber es gibt normative Grundsätze, an denen nicht zu rütteln ist, wie den, dem „Proletariat Blutopfer, vermehrtes Elend“, Unterwerfung unter eine Diktatur zu ersparen (IX., 136). Und es gibt Werte, wie den der Demokratie, die bedingungslos zu verteidigen sind. Es ist kaum ein größerer Gegensatz zur politischen Moral der Leninisten aller Sorten denkbar.

In der Regel wird Otto Bauers Vorstellung vom demokratischen Weg zum demokratischen Sozialismus auf die Formel von der defensiven Gewalt verkürzt (vgl. III, 1023f., V, 411f.). Das war in der Tat die umstrittenste Passage im Linzer Programm der SDAP von 1926, mit dem sich zum ersten Mal eine große sozialistische Massenpartei auf das Konzept eines dritten Weges, zwischen Reformismus und Bolschewismus, festlegte. 1931 machte sich die Sozialistische Internationale dieses Konzept zu eigen. Die Formel von der defensiven Gewalt – wir werden uns mit Waffengewalt verteidigen, wenn die Demokratie selbst angegriffen wird – wurde als Drohung wahrgenommen. Die österreichische Sozialdemokratie war den Wehrverbänden der Rechten nicht wehrlos ausgeliefert; sie hatte Waffen und verfügte über eine eigene Kampforganisation, den Republikanischen Schutzbund. Als Bürgerkriegsdrohung war die Selbstbindung an die Defensive für den Fall des offenen Verfassungsbruchs nicht sehr zweckmäßig, da sie dem Gegner die Initiative vollständig überließ. Sie war zugeschnitten auf eine bürgerliche Demokratie, in der es an Demokraten fehlt, vor allem (wie auch in der Weimarer Republik) an bürgerlichen Demokraten (vgl. IX, 605 u.ö.), an demokratischen Volksparteien rechts von der Sozialdemokratie. Otto Bauer hat Koalitionsregierungen mit konservativen, bürgerlich-demokratischen Parteien nie prinzipiell abgelehnt; bis zuletzt hat er darauf gehofft, im bürgerlich-klerikalen Lager politische Gegner zu finden, die den Wert der Demokratie ebenso hoch schätzten wie er.

Heute mag uns die Formel von der defensiven Gewalt überholt erscheinen, nachdem sich das Bürgertum (selbst in Deutschland) im großen und ganzen zur Demokratie bekehrt hat. Ein Widerstandsrecht gegen Verfassungsbruch kennen heute die meisten gut demokratischen Verfassungen. Dennoch beschreibt die alte Formel des Linzer Programms bis heute recht genau den Kern jedes „Bekenntnisses zur Demokratie“, das mehr ist als Lippengymnastik: Wir werden die Spielregeln respektieren und die Resultate des politischen Kräftespiels in der Demokratie akzeptieren, auch die, die uns nicht passen – solange die anderen bereit sind, dasselbe zu tun. Wir werden also aktzeptieren, daß eine Demokratie „Unsicherheit“ einschließt. Wir können im politischen Meinungskampf unterliegen, wir können abgewählt werden, wir haben und wir verlangen keine Garantie dafür, daß das „Gute“ bzw. der „Sozialismus“ siegt.

Seit 1923 hat Otto Bauer die politische Strategie der Sozialdemokratie in der bürgerlichen Demokratie als „Stellungskrieg“ beschrieben (vgl. II, 766, VI, 143, VII, 382ff u.ö.). Als einer der ersten stellt er sich der Tatsache, daß die Zahl der Industriearbeiter (in Österreich und anderswo) relativ abnahm: Man kann nicht länger damit rechnen, daß sie „automatisch“ zur Mehrheit der Bevölkerung in den Industrieländern werden; auf absehbare Zeit bleiben sie eine, wenn auch große Minderheit (vgl. V, 402f.). Daher wird der Stellungskrieg unweigerlich im Kampf um die Mittelschichten entschieden; es siegt, wer die Masse der Bauern, der Kleinbürger, der Intelligenz, der Angestellten und Beamten unter seine Hegemonie zu bringen versteht (vgl. V, 405ff.). Wie die Mehrheit der Köpfe zu gewinnen und die Hegemonie der Arbeiterklasse in Mittel- und Westeuropa – wo Kleinbürger und Bauer nicht bewußtlose, politisch indifferente Massen, sondern „politisch sehr aktive Klassen“ sind (II, 957) – zu erreichen ist, das hat Otto Bauer des öfteren auseinandergesetzt (z.B. in Der Kampf um die Macht, 1924, II, 937ff.). Was die im stark agrarisch geprägten Österreich besonders wichtigen Bauern betraf, hat er ein detailliertes Konzept entwickelt, das in das Sozialdemokratische Agrarprogramm von 1925 (vgl. II, 1001ff.) eingegangen ist. Vom Sozialismus wird darin durchaus nicht geschwiegen. Aber in erster Linie ist von den ganz alltäglichen, ganz gegenwärtigen Interessen der Kleinbauern die Rede und von Maßnahmen, die dazu dienen, sie gegen die Ausbeutung durch Großgrundbesitz, Handels- und Bankkapital zu schützen und die vorhandenen Institutionen zur gegenseitigen Hilfe in der Landwirtschaft zu stärken.

Eine Massenpartei der Arbeiterklasse wie die Sozialdemokratie hat selbstverständlich immer und überall für Reformen einzutreten, die – wie Arbeiterschutz oder Mieterschutz – die Lebenslage der Masse der Arbeiterbevölkerung verbessern (vgl. V, 223). Sie geht über den bloßen Reformismus hinaus, sobald sie Machtpositionen, die sie im Staat erringt, nicht nur einfach besetzt, sondern sogleich als „Keimzellen neuer sozialistischer Ordnung“ (IX, 272), d.h. aber für sozialistische Experimente nutzt. Das wichtigste Experimentierfeld für die österreichischen Sozialisten waren die Roten Gemeinden, voran das Rote Wien, aber auch gemeinwirtschaftliche Betriebe und Genossenschaften. Stets ging es darum, Beispiele zu geben, durch die Tat zu beweisen, daß sozialistische Methoden überhaupt und deutlich bessser funktionierten, die Beteiligten besser leben und besser arbeiten ließen. Ein solches Beispiel gab Wien mit einer einmaligen Kombination von kommunaler Sozial-, Gesundheits- und Schulpolitik, mit Mieterschutz, sozialem Wohnungsbau und sozialistischer Steuerpolitik. Otto Bauer sah die Mängel dieses Experiments sehr klar (vgl. z.B. III, 602f.), hielt es aber für unverzichtbar als Mittel zur Veränderung des Bewußtseins unter den Arbeitern selbst und um durch die werbende Kraft des Beispiels zur Hegemonie der Sozialdemokratie über die Volksmehrheit zu gelangen. Die soziale Revolution kann nur „das Werk aufbauender, organisierender Arbeit“ sein (II, 95); daher Bauers Lob der „revolutionären Kleinarbeit“ (vgl. III, 581ff.).

Otto Bauer – unser Zeitgenosse

Als sozialistischer Politiker ist Otto Bauer erstaunlich aktuell. Er hat sich als einer der ersten dem Problem der dauerhaften Massenarbeitslosigkeit stellen müssen. Von 1919 bis 1934 sank die Arbeitslosigkeit in Österreich nie unter 10%, sie stieg seit 1924 wieder an und erreichte in der Weltwirtschaftskrise über 21%, mehr als 27% in den Industriegebieten des Landes. Bauer sah die demoralisierenden Folgen der Langzeit-Arbeitslosigkeit, die vor allem die Freien Gewerkschaften schwächten – deren Mitgliederzahl von 1923 bis 1932 von c. 900000 auf 520000 sank. Daher hat Otto Bauer Beschäftigungspolitik in großem Stil propagiert – lange vor Keynes. Er wollte öffentliche (Bau)investitionen in großem Stil kombinieren mit allgemeiner Arbeitszeitverkürzung – natürlich bei vollem Lohnausgleich (siehe z.B. Arbeit für 200.000, 1933, III, 941ff.).

Otto Bauer ist einer der ersten marxistischen Ökonomen, der das alte Problem der sozialen Kosten der kapitalistischen Entwicklung wiederentdeckt und am Beispiel der Rationalisierung bzw. Fehlrationalisierung zum ersten Mal differenziert behandelt hat. Eine noch heute lesenswerte Pionierarbeit, die Bauers Überzeugung entsprang, alle Sozialisten hätten die Widerstands- und Wandlungsfähigkeit des Kapitalismus nach dem I. Weltkrieg stark unterschätzt, die neuen Formen der kapitalistischen Produktionsweise seien sorgfältig zu studieren. Er hat so eine der ersten gründlichen Studien dessen geliefert, was man heute „Fordismus“ nennt (vgl. Kapitalismus und Sozialismus nach dem Weltkrieg, 1931, III, 719ff.). Bauer hatte bereits ein klare Vorstellung von den ökologischen Problemen des Kapitalismus, als es eine ökologische Bewegung oder ein Umweltbewußtsein weder in Österreich noch anderswo in Europa gab. Wie er in seinen agrarpolitischen Schriften darstellt, führt die kapitalistische Agrikultur zur Umweltzerstörung (vgl. z.B. Der Kampf um Wald und Weide, 1925, III, 31ff und Sozialdemokratische Agrarpolitik, 1926, III, 283ff.), sie ist mit rationeller, naturbewahrender Land- und Forstwirtschaft unvereinbar, muß daher nicht nur im Interesse der Landbevölkerung, sondern im Interesse aller überwunden werden.

Die österreichische Sozialdemokratie hat auf Bauers Initiatiave als erste mit den heute vieldiskutierten Sozialklauseln im Außenhandel gearbeitet. Diese Sozialklauseln im Zollgesetz waren gegen Exporteure gerichtet, die (wie vor allem in Deutschland damals üblich) den gesetzlichen Achtstundentag nachweislich unterliefen (vgl. VII, 343ff.). Gleichzeitig plädierte er für größere, grenzüberschreitende gemeinsame Märkte (z.B. Arbeitsmärkte) in Europa und schlug als erster eine zwischenstaatliche Harmonisierung der Sozial(versicherungs)systeme vor (vgl. z.B. V, 983).

Sein letzter Artikel erschien einen Tag nach seinem Tode am 5. Juli 1938. Es war ein leidenschaftlicher Appell an die Regierungen der westlichen Demokratien, ihre moralische und völkerrechtliche Pflicht zu tun, und den Juden Deutschlands und Österreichs, denen unter der Naziherrschaft immer mehr elementare Bürgerrechte genommen wurden, die Auswanderung zu ermöglichen (Ich appelliere an das Gewissen der Welt, VII, 781-784).

Literatur

Otto Bauer. Werkausgabe, Hg. von der Arbeitsgemeinschaft für die Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung, 9 Bde, Wien 1975-1980 (Zitierweise: Bandzahl römisch, Seitenzahl arabisch)
Wolfgang Abendroth, Otto Bauer, in: Internationales Soziologen Lexikon, hrsg. von Wilhem Bernsdorf, Stuttgart 1959, S. 24-26

Detlev Albers, Versuch über Otto Bauer und Antonio Gramsci. Zur Politischen Theorie des Marxismus, Berlin 1983
Detlev Albers u.a. (Hg.), Otto Bauer und der „dritte“ Weg. Die Wiederentdeckung des Austromarxismus durch Linkssozialisten und Eurokommunisten, Frankfurt/M 1979
Detlev Albers u.a. (Hg.), Otto Bauer – Theorie und Politik, Berlin 1985

Tom Bottomore, Introduction, in: ders./Patrick Goode (eds), Austro-Marxism, Oxford 1978, S. 1-44
Yvon Bourdet, Les conditions d’étude de l’austromarxisme, in: Le mouvement social, Jg. 50, 1965, S. 111-120

Yvon Bourdet, Otto Bauer et la révolution, Paris 1968
Julius Braunthal, Otto Bauer. Ein Lebensbild, in: Otto Bauer. Eine Auswahl aus seinem Lebenswerk, Wien 1961, S. 9-101

Wilhelm Ellenbogen, Otto Bauer – Wille und Intellekt, in: Zukunft, 7/1978, S. 35-38
Ernst Glaser, Im Umfeld des Austromarxismus. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte des österreichischen Sozialismus, Wien 1981

Volker Gransow/Michael Krätke, Thesen zur politischen Theorie des Austromarxismus, in: Arbeitskreis Westeuropäische Arbeiterbewegung (Hg.), Eurokommunismus und marxistische Theorie der Politik, Berlin 1979, S. 103-122
Richard Kende, Norbert Leser und der Austromarxismus, in: Zukunft 1/1978, S. 39-43

Richard Kende, Die Tragik Otto Bauers, in: Zukunft, 8/1978, S. 32-36
Richard Kende, Otto Bauer: Person und Politik (1881-1938), in: Leviathan, 17. Jg. (1989), S. 409-431

Peter Kulemann, Am Beispiel des Austromarxismus. Sozialdemokratische Arbeiterbewegung in Österreich von Hainfeld bis zur Dollfuß-Diktatur, Hamburg 1979
Otto Leichter, Otto Bauer. Tragödie oder Triumph?, Wien 1970

Norbert Leser, Zwischen Reformismus und Bolschewismus. Der Austromarxismus als Theorie und Praxis, Wien 1968
Norbert Leser, Der Austromarxismus als Theorie und Praxis, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 20. Jg., 1968, S. 471-501

Raimund Löw, Otto Bauer und die russische Revolution, Wien 1980
Raimund Löw u.a., Austromarxismus. Eine Autopsie, Frankfurt 1986

Giacomo Marramao, Austromarxismo e socialismo di sinistra fra le due guerre, Milano 1977
Peretz Merchav, Otto Bauer und Max Adler, in: Die Neue Gesellschaft, 12/1977, S. 1035-1041

Oskar Negt/Alexander Kluge, Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit, Frankfurt/M 1972 (Kommentar 5 „Austromarxismus“, S. 370-383)
Ernst Panzenboeck, Ein deutscher Traum: die Anschlußidee und Anschlußpolitik bei Karl Renner und Otto Bauer, Wien 1985

Anton Rabinbach, The Crisis of Austrian Socialism, Chicago 1983
Richard Saage, Otto Bauer (1881-1938), in: W. Euchner (Hg.), Klassiker des Sozialismus, Bd. 2, München 1991, S. 166-180

Hans-Jörg Sandkühler/Rafael de la Vega, Einleitung, in: dies. (Hg.), Austromarxismus, Frankfurt/M 1970, S. 7-47
Ladislaus Singer, Marxisten im Widerstreit. Sechs Porträts, Stuttgart 1979

Herbert Steiner, Am Beispiel Otto Bauers – die Oktoberrevolution und der Austromarxismus, in: Weg und Ziel, Sondernummer Juli 1967, S. 3-21
Gerd Storm, Franz Walter, Weimarer Linkssozialismus und Austromarxismus. Historische Vorbilder für einen „Dritten Weg“ zum Sozialismus?, Berlin 1984